Literarischer Coup von Alhierd Bacharevič: Balbuta kennt kein „wir“

Eine Zeitkapsel ist eine Botschaft an die Nachwelt. Mit einer Notiz, wann sie geöffnet werden soll, hinterlässt man sie an einem unbekannten Ort. Oft werden Zeitkapseln in Fundamenten versenkt, die Möglichkeit hat Aleh Ivanavič, ein desillusionierter Minsker Lehrer in Alhierd Bacharevičs Roman Europas Hunde, allerdings nicht. Nachdem er seine Schüler aufschreiben lässt, „was wir gedacht und geträumt, wie wir uns die Zukunft vorgestellt haben“, befüllt er eine Kapsel mit den Botschaften und vergräbt sie im nahe gelegenen Wald.

Als sein Schuldirektor davon erfährt, reagiert dieser heftig. „Die Zeitkapsel, das ist nicht bloß ein Kinderspiel. Kein Mikado. Das ist eine wichtige, verantwortungsvolle Operation. Ideologisch vor allem. Sie hätten die Texte der jungen Leute offiziell bestätigen müssen, sie überprüfen auf politische und moralische Korrektheit. Beglaubigen lassen von mir.“ Empört von der Nachlässigkeit des Lehrers schickt er Ivanavič los, die Zeitkapsel wieder auszugraben. Ob das tatsächlich passiert, bleibt offen.

Möglicherweise halten die Leser:innen dieses Romans eine solche Zeitkapsel in den Händen. Er spielt gleichermaßen in der Gegenwart wie in der Zukunft, wobei die unterschiedlichen Erzählungen die Handlung aus dem Jahr 2016, in dem der Autor noch am Manuskript gesessen hat, bis ins Jahr 2050 tragen, in dem im Osten ein russischer Superstaat gewachsen ist und Bücher nur noch etwas für Freaks und Sonderlinge sind.

Verbotene Schriften

Europas Hunde ist im russischen Einflussgebiet „Samisdat“-Ware, Bacharevičs Roman wurde als „extremistisch“ eingestuft und verboten. Der weißrussische Autor, der seit Jahren in Graz lebt, antwortete auf die staatliche Zensur auf seine Weise. Er schrieb Das letzte Buch von Herrn A., eine Art slawische Antwort auf Tausendundeine Nacht, in dem ein Autor seinem Verleger jeden Abend eine neue Geschichte präsentieren muss, um seine Schulden zu begleichen. Auch dieses große Märchenbuch steht in Weißrussland auf dem Index. Der Mitbegründer des PEN Berlin führt darin das weißrussische Regime nicht nur am Ring durch die literarische Manege, sondern kommentiert auch augenzwinkernd die Unterdrückung der Rede- und Meinungsfreiheit. „Wenn wir den Märchenerzähler vertreiben, endet unsere Vergnügung, und das wäre sehr schade …“, sagt die Frau des Verlegers, nachdem sich Herr A nicht daran gehalten hat, jedes Märchen mit den Worten „Barmherziger Herrgott“ zu beginnen. Der Intervention der Gattin ist es zu verdanken, dass A weitere Geschichten erzählen kann, die fantastisch verdreht von den Ungeheuerlichkeiten des weißrussischen Regimes handeln.

Um von der bedrückenden Wirklichkeit in einer Diktatur zu erzählen, ist der Realismus ungenügend. Allzu schnell gehen ihm die Bilder und Worte aus. Bacharevič setzt daher auf die Fantasie. „Kalau tau neimatuzu balbutima, fu nau“, heißt es in der Kunstsprache Balbuta, die Oleg Olegowitsch, einer der verschrobenen, Freiheit suchenden Protagonisten in Europas Hunde, erfunden hat. „Wenn dir ein Wort fehlt, erschaffe es“, lautet die Übersetzung, die man sich mit dem beiliegenden Wörterbuch erarbeiten kann.

So nutzt der 1975 in Minsk geborene Autor eine andere Sprache, um die kafkaesken Verhältnisse in seiner Heimat zu beschreiben. Teile seines Romans sind in der Fantasiesprache verfasst, was die Lektüre dieses ebenso fulminanten wie anspruchsvollen Romans nicht unbedingt leichter macht. Entscheidender als der Inhalt dieser Passagen ist aber ohnehin die Balbuta-Philosophie. Es handele sich um eine „Sprache der Freiheit, der Poesie und des Glücks“, die weder Zwang noch Kollektiv, weder Moralisieren noch Moral kennt, lesen wir. Balbuta „kennt kein ,wir‘, nur eine unendliche Vielzahl freier und einzigartiger ,Ichs‘“. Eine Sprache als Gegenentwurf zu jedem autoritären Ansatz – was für ein Geniestreich!

Ein großes Werk der Moderne

So ist dieser Roman ein literarischer Coup, der zu den großen Werken der Moderne gehört. James Joyce, Franz Kafka oder Selma Lagerlöf schimmern durch den Text. Die verspielte Fantasie erinnert aber auch an Zeitgenossen wie Joshua Cohen, Roberto Bolaño oder Mark Z. Danielewski. In sechs lose verbundenen Teilen, unterbrochen von sarkastischen Poemen, arbeitet sich der Text aus der düsteren Gegenwart in eine nebelverhangene Zukunft vor.

Da wird eine alte Babuschka von einem Oligarchen auf eine griechische Insel entführt, um dort ein neues belarussisches Reich zu begründen. Ihr Schicksal scheint mit dem eines jungen Mannes verbunden, der davon träumt, auf seiner Gans „holgerdiepolger“ in den Westen zu fliegen. Von Nils Holgersson ist auch jener „gebeutelte Beutelmensch“ fasziniert, der an einem schrecklich heißen Sommertag eine Plastiktüte mit unbekanntem Inhalt überbringen soll. Er irrt durch Minsk wie Leopold Bloom durch Dublin – ein großes Vergnügen. Die titelgebenden Hunde kläffen mal im russischen Märchen den Gänsen hinterher, dann reißen sie in einem packenden Politthriller energisch an den Leinen.

Wie jeder große Roman handelt Europas Hunde auch von der Kraft der Literatur. Er ist mit Anspielungen und literarischen Verweisen gespickt und strotzt vor literarischer Kraft. Es ist Thomas Weilers entschlossen verspielter, poetisch-melodiöser Übersetzung zu verdanken, dass sich diese auch im deutschen Text entfalten kann.

Am Ende führt die Leiche eines weißrussischen Autors den Ermittler Teresius Skima von Berlin nach Hamburg, Prag, Paris und Vilnius, wo er in den letzten Buchhandlungen Europas den Spuren des unbekannten Literaten folgt. Dabei stößt er auf eine Zeitkapsel, in der er zwischen nichtssagenden Teenager-Botschaften die rätselhafte Nachricht eines Schülers namens Viktar Baūm findet. In Balbuta berichtet dieses Alter Ego des Autors, wie er in der europäischen Literatur eine neue Heimat findet, während draußen die Kettenhunde des Regimes bedrohlich die Zähne fletschen. „Balbu da bu samoje!“, so die verschlüsselte Aufforderung. „Sprich und sei frei!“

Europas Hunde Alhierd Bacharevič Thomas Weiler (Übers.), Voland & Quist 2024, 744 S., 36 €

Das letzte Buch von Herrn A. Alhierd Bacharevič Andreas Rostek (Übers.), edition.foto TAPETA 2023, 464 S., 25 €