Landleben | Lucie Ricos „Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen“: Schnapsidee mit Huhn

Lucie Ricos Roman „Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen“ ist ein brutaler und fast zu lustiger Trip. Lesen lohnt sich trotzdem, meint Jana Volkmann


Lucie Rico schildert das richtige Leben im falschen konsequent als unmöglich

Collage: Johanna Goldmann, Porträt: Joel Saget/Getty Images


Idyllisch erscheint das Leben auf dem Bauernhof in Lucie Ricos Roman Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen nicht einen Augenblick. Städterin Hannah hat von ihrer Mutter einen Hof mitsamt Schlachthühnern geerbt, doch zunächst interessiert sie nur eines davon: Théodore. Hannahs Mutter hat ihr auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, Théodore zu schlachten.

Was danach kommt, ergibt sich spontan, man könnte auch sagen: unüberlegt – Hannah führt den Hof weiter, ahnungslos, aber mit somnambuler Sicherheit. Sie schlachtet, sie verkauft am Markt. Mit einem neuen Geschäftsmodell allerdings: Auf die Etiketten für das verpackte Fleisch schreibt sie Namen und Kurzbiografie der Hühner – eine gegenläufige Bewegung zu der Entfremdung, die uns Menschen normalerweise davor bewahrt, uns das Fleisch auf dem Teller als lebendes Tier vorzustellen.

Hannah fehlte das Gackern

Als Gedankenexperiment ist der Roman der 1988 in Perpignan geboren Rico erhellend, maßlos übersteuert und, ja, unrealistisch. Warum verkauft Hannah den Hof nicht und geht zurück in die Stadt zu ihrem Architektenfreund Louis? Ihre Motivation bleibt ein Rätsel, doch das passt zu ihrer wetterwendischen Persönlichkeit. „Sie merkt es ganz plötzlich“, heißt es. „Das Gackern fehlt ihr. Die letzten zehn Jahre hat sie alles daran gesetzt, diesem Haus zu entkommen, den beiden Hühnerställen, die es umringen wie Wachtposten, als wären die Menschen Gefangene unter der Aufsicht der Tiere. (…) Trotzdem denkt sie: Das hier ist jetzt mein Zuhause.“

Hannah betrachtet die Hühner und glaubt, ihre ganze Persönlichkeit sehen und Rückschlüsse auf ihre Intelligenz oder ihre Gefühle ziehen zu können. Spätestens, als sie beginnt, mit ihnen Whiskey zu trinken (sie überleben), Filme zu schauen und eigens für sie ausgedachte Spiele zu spielen, wird klar, wie unbedarft und schamlos Hannah sie vermenschlicht.

Ob dieser Anthropomorphismus seinen Objekten nutzt oder schadet, ist keine belanglose Frage: Die einen könnten meinen, was im Roman geschildert wird, hat mit Hühnern nicht viel zu tun – zumal Hannah sie, trotz Eigennamen und Biografien, eben nicht als autonome Wesen sieht, sondern vor allem als Projektionsfläche und als Ware. Andere könnten sagen, dass solch eine Vermenschlichung die Voraussetzung für Mitgefühl bildet. Am Ende sterben die Hühner, so oder so.

Mehr muss man über die Mär vom ethischen Fleischkonsum nicht sagen. Und so ist der gesamte Roman vom Anfang bis zum erstaunlichen Ende vor allem von einem Modus geprägt: kognitive Dissonanz. Merkwürdig, wie lang das alles glattgeht, „Hannahs Hähnchen“ jedenfalls verkaufen sich besser als gedacht. Der Supermarktbesitzer Fernand bekommt schließlich Wind davon und buhlt erfolgreich um eine Zusammenarbeit. Doch die Unvereinbarkeit von Familienbetrieb und Massenware bedroht rasch das ganze Geschäftsmodell.

Lucie Ricos Humor flottiert wie ein freies Radikal umher und dockt überall an, wo die Fehlerhaftigkeit der Menschen eine Angriffsfläche bietet: Die städtische Bourgeoisie trifft er genauso wie die schuftenden Verkäufer*innen, die sich, sobald der Markt zusperrt, stante pede in die grässliche Dorfkneipe begeben. Oft genug kippt der Witz in latenten Grusel. Hannah ist Vegetarierin, aber sie begegnet den Hühnern im Stall keineswegs wohlgesinnt. Ihre liebste Tötungsmethode ist das Halsumdrehen. Den Hühnern einen Schrecken einzujagen findet sie lustig.

Als ein Huhn bei einer „Spritztour“ umkommt, die vor allem ihrer eigenen Belustigung dient, wird es gerupft und verkauft. Vielleicht regrediert man am Ort der Kindheit eben ins geistige Kükenstadium zurück, vielleicht ist es auch die Trauer um die Mutter, die Hannah so erratisch macht. Doch in ihr scheint sich noch etwas Grundsätzlicheres abzuspielen: Verliert sie den Verstand? Ja, schon. Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen ist ein ungeheuerlicher Trip, brutal, zynisch und (bisweilen etwas zu) lustig. Dabei sind die sozialen und politischen Diskurse, die hier verhandelt werden, ganz nah am Alltag. Das richtige Leben im falschen nimmt sich hier konsequent unmöglich aus – darin liegt eine große Stärke des Romans.

Wer mehr Ernst bevorzugt, der ist etwa mit Jean-Baptiste Del Amos Tierreich gut beraten: Auch hier geht es um Tiere als Ware, um Landwirtschaft und zugleich um den Hof als Familiengeschäft. Und darum, wie der Kapitalismus letztlich alle zugrunde richtet, die Tiere wie ihre Schlachter*innen – wenn auch auf unterschiedliche Weisen.

Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen Lucie Rico Milena Adam (Übers.), Matthes & Seitz 2024, 235 S., 22 €