Lage in welcher Ukraine: Leere Schützengräben helfen nicht

„Ihr Leben und Ihre Gesundheit sowie die ihrer Kinder sind wichtiger als alles andere.“ Das schrieb Iryna Wereschtschuk, Vizeregierungschefin der Ukraine, bereits Mitte August an die Einwohner von Pokrowsk in der Region Donezk. „Ich bitte Sie, sich in Sicherheit zu bringen.“ Zwölf Tage später ist immerhin ein Drittel der Stadtbevölkerung der Aufforderung nachgekommen: Von einst 60.000 Einwohnern halten sich noch weniger als 40.000 dort auf, melden örtliche Behörden. Vor allem Kinder werden aus der Stadt gebracht: 1.900 seien noch dort, von einst fast 14.000. Die Stadt wird noch verteidigt, aber sie leert sich.

Denn der russische Vormarsch auf Pokrowsk, einem der wichtigsten logistischen Knotenpunkte der ukrainischen Truppen, bricht nicht nur nicht ab. Er beschleunigt sich. Das Institute for the Study of War (ISW), das lange auf das langsame Tempo der russischen Einheiten verwies, sieht inzwischen gleich zwei Möglichkeiten, die Stadt einzunehmen: durch die Eroberung von Myrnohrad östlich von Pokrowsk oder durch eine Ausweitung des bisher eroberten Gebiets im Südosten. Letzteres würde ukrainische Gegenangriffe sehr erschweren, Pokrowsk wäre in akuter Gefahr. „Hauptsache, sie fahren weg“, kommentierte der Militärverwalter von Pokrowsk. Nach Optimismus klingt das nicht.

Auch Militärchef Oleksandr Syrskyj räumte eine schwere Lage dort ein. „Die Kämpfe haben einen äußerst grausamen Charakter“, schrieb er nach einem Frontbesuch. Russland werfe „alles, was sich bewegen und voranmarschieren kann“ in die Schlacht. Die Situation verändere sich schnell, „ungewöhnliche Entscheidungen“ müssten getroffen werden – Improvisation statt planvolle Verteidigung, Lücken stopfen anstelle einer Strategie.

Um zwei bis vier Kilometer haben sich die russischen Truppen Pokrowsk innerhalb einer Woche genähert, mehrere Dutzend Quadratkilometer Gelände eingenommen. Das klingt nicht nach viel. Doch nicht die Zahl eroberter Quadratkilometer sei entscheidend, schreibt die ukrainische Beobachtergruppe Frontelligence Insight. Sondern es gehe um das Tempo, in dem Russland scheinbar gut ausgebaute Befestigungen überwinde und Schützengräben einnehme. Und dieses Tempo sei hoch.

Gebiete mit schweren Kämpfen, letzte 24h

Russische Befestigungsanlagen

Russische Kontrolle

Vortag

seit Kriegsbeginn

vor Kriegsbeginn

Zurückerobert

Vortag

seit Kriegsbeginn

Zusätzl. erobert

Quelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Zwar hat die ukrainische Regierung in den vergangenen Monaten – nach Ansicht vieler Beobachter deutlich zu spät – hohe Geldsummen für den Bau von Befestigungsanlagen bewilligt. Satellitenbilder zeigten einen stetigen Ausbau der ukrainischen Verteidigungsstellungen in dem Gebiet. Aber um sie zu bemannen, fehlen die Truppen. „Egal wie gut oder zahlreich Verteidigungsanlagen sind“, schreibt Frontelligence Insight, „wenn nur 10 oder 20 Prozent der benötigten Kapazität bemannt sind, überrascht es nicht, dass die russischen Truppen sie so schnell überwinden können.“

Noch deutlicher drückte sich Marjana Besuhla aus, eine Abgeordnete, die für regelmäßige Kritik an der Militärführung bekannt ist und im Streit darüber sogar die Fraktion der Regierungspartei Sluha narodu verließ. Die Schützengräben südlich von Pokrowsk seien teilweise leer, schrieb sie auf Facebook. In Nowohrodiwka, einer jüngst von Russland eingenommenen Siedlung, habe es „praktisch keine ukrainische Armee gegeben“. Schützengräben schießen nicht zurück.

Für die Regierung in Kiew ist die Kritik ein Problem. Denn die Entscheidung von Präsident Wolodymyr Selenskyj, im russischen Kursk einzumarschieren, fähige Truppen dorthin umzuleiten und so einen politischen Erfolg zu erringen, gebe Pokrowsk der russischen Armee preis – das sei der zunehmend dominierende Ton innerhalb des Militärs, berichtet die Financial Times. Der Druck auf Selenskyj, Truppen wieder aus Kursk abzuziehen, dürfte damit steigen. Doch der Einsatz dort ist hoch: Mit dem Einmarsch in Russland und dem Fehlen einer russischen Reaktion darauf hofft er, seine westlichen Unterstützer zu einem entschlosseneren Vorgehen gegen Wladimir Putin zu bewegen. Dass er dieses Ziel aufgibt, scheint derzeit unwahrscheinlich.

Nicht alle Militärs teilen die Einschätzung, wonach es die Operation in Kursk sei, die zur drohenden Niederlage in der Ostukraine führe. Das schrieb etwa Roman Ponomarenko, ein Historiker und Offizier der Asow-Brigade, der seinem Ärger auf Telegram Luft machte. Die Ausbildung neuer Soldaten laufe nicht nach Vorschrift, schrieb Ponomarenko. Die wenigen in Pokrowsk ankommenden Rekruten seien keine Hilfe. Die Verteidigung der Stadt sei „desorganisiert, die Truppen müde, geschwächt, und viele Einheiten demoralisiert.“

Das Oberkommando gründe neue Einheiten, müsste aber eigentlich die bereits bestehenden stärken, kritisierte er weiter. Die neuen Verbände seien aber nicht kampfstark, ihre Kommandeure oft inkompetent. Auch die Organisation der Truppen sei veraltet und schlecht aufeinander abgestimmt. Es komme vor, dass benachbarte Brigaden „ihre eigenen Kriege“ führten, ohne einem Gesamtkonzept zu folgen. Auch Bohdan Krotewytsch, der Stabschef der Asow-Brigade, beklagte: Anstelle auf Offiziere zu hören und größere Divisionen zu gründen, setze die Militärführung auf „Lückenstopferei“.  

Der Verlust von Pokrowsk könne noch verhindert werden, schreiben die Beobachter. Doch sollte es dazu kommen, kämen die Konsequenzen einer „operativen Katastrophe“ gleich. Denn hinter Pokrowsk gebe es kaum Befestigungen, der Weg zur Eroberung der ganzen Region Donezk wäre für Russland nahezu frei. Auch die benachbarte Region Dnipropetrowsk, die bisher von keinem russischen Soldaten betreten worden ist, sei dann nicht mehr sicher. Wenn es nicht gelinge, Pokrowsk zu verteidigen, dann müsse ihr Verlust zumindest so lange verzögert werden, bis neue Befestigungen im Hinterland errichtet werden können.

„Lange Zeit wurde die Lage im Donbass zutreffenderweise als schwierig, als kontrollierbar bezeichnet“, schreibt der Offizier Ponomarenko. „Jetzt ist sie außer Kontrolle geraten.“ Um das zu ändern, bleibt dem Militärkommando nicht mehr viel Zeit.


Einwohner von Pokrowsk verabschieden sich von Menschen, die die Stadt am 22. August in einem Evakuierungszug verlassen.



919 Tage


seit Beginn der russischen Invasion


Die Zitate: Pfeile oder Schütze

Mit weitreichenden westlichen Waffen Ziele in Russland treffen – auch nach monatelanger Diskussion verwehren die Unterstützerstaaten der Ukraine ihr diese Möglichkeit. Der ukrainische Einmarsch in Kursk hat zwar manchen Beobachtern die Sorge davor genommen, dass Russland den Krieg wegen Angriffen auf ihr Staatsgebiet noch stärker eskalieren könnte. Doch die Entscheider in Washington, auf deren Votum es vor allem ankommt, hat das offenbar noch nicht überzeugt. Überzeugt ist hingegen Gabrielius Landsbergis, Litauens Außenminister, der seine Meinung auf der Plattform X ausdrückte:

Wir können nicht zulassen, dass russische Bomber besser geschützt sind als ukrainische Zivilisten.

Gabrielius Landsbergis

Auch Expertengruppen wie das ISW betonen immer wieder, dass Russlands Luftangriffe zurückgehen könnten, wenn die Ukraine die Möglichkeit erhalten würde, russische Militärflugplätze oder Bomben- und Munitionslager anzugreifen. Am Dienstag veröffentlichte das Institut eine Karte, die 225 militärische Ziele in Russland auflistet, die in Reichweite von ATACMS-Raketen der Ukraine liegen.

Wie das der Ukraine helfen soll, verdeutlichte das Verteidigungsministerium mit einem Verweis darauf, dass es lohnender sei, die russischen Bomber am Boden zu treffen, als die von ihnen abgefeuerten Marschflugkörper abzufangen.

Wir müssen den Schützen töten, nicht den Pfeil.

Ukrainisches Verteidigungsministerium

Vor dem Hintergrund jüngster russischer Luftangriffe versuchen nun Verteidigungsminister Rustem Umjerow und Selenskyjs Büroleiter, Andrij Jermak, ihre Gesprächspartner in Washington, D. C. persönlich davon zu überzeugen, die Auflagen zu lockern. Laut einem Bericht des Senders CNN wollen sie dabei Transparenz demonstrieren – und den USA eine konkrete Liste potenzieller Ziele vorlegen.


Die wichtigste Meldung: Russlands größter Angriff

Es war der mutmaßlich größte russische Luftangriff seit Kriegsbeginn: 118 Marschflugkörper, neun Raketen und 109 Drohnen setzte Russland nach ukrainischen Angaben in der Nacht zum Montag ein, 236 Flugkörper waren es insgesamt. Ähnlich groß war im April der bisher größte Luftangriff des Iran auf Israel ausgefallen – nur dass das Land Hilfe seiner Verbündeten wie der USA beim Abschuss der Raketen und Drohnen erhielt.

Die ukrainische Flugabwehr hatte diese Hilfe nicht. Dennoch meldete sie den Abschuss von 99 Drohnen, 100 Marschflugkörpern und zwei Raketen. 85 Prozent der Flugkörper konnten demnach abgewehrt werden. Eine beträchtliche Quote – doch die verbliebenen Waffen erreichten ihre Ziele. Erneut kam es in Folge zu Stromausfällen in den meisten ukrainischen Regionen.


Ukrainische Flugabwehreinheiten suchen in der Nacht zum 29. August mit Scheinwerfern nach Drohnen am Nachthimmel über Kiew.

Auch in den Nächten darauf legte Russland nach – jedoch mit geringerem Einsatz: 10 Marschflugkörper und 81 Drohnen seien in der Nacht zum Dienstag eingesetzt worden, teilte die Ukraine mit. Drei Marschflugkörper und 74 Drohnen seien es in der Nacht zum Donnerstag gewesen, zwölf Drohnen waren es demnach einen Tag darauf. Die Abwehr des russischen Großangriffs vom Montag dürfte die ukrainischen Bestände an Abfangraketen deutlich geleert haben. Das russische Arsenal an schnell verfügbaren Marschflugkörpern aber offenbar auch.


Weitere Nachrichten: Brennendes Öl und verlorener Kampfjet

  • Die Ukraine hat zwei weitere russische Öldepots angegriffen. Ein Depot in Grenznähe geriet in Brand, ein weiteres, 1.200 Kilometer von der Grenze entfernt, wurde offenbar nur leicht beschädigt. Den dreizehnten Tag in Folge brennt ein zuvor getroffenes Treibstofflager in der Region Rostow. Russland kündigte nach den Angriffen – ohne Verweis auf sie – an, seine monatlichen Daten zur Produktion von Ölprodukten nicht mehr zu veröffentlichen: Die Zahlen könnten zur „Marktmanipulation“ missbraucht werden.
  • Die Angriffe auf die Öldepots, ebenso wie zuvor auf mehrere Militärflugplätze, erfolgten mit Drohnen. Doch nun will die Ukraine eine neue Art Waffe entwickelt haben:eine sogenannte „Raketendrohne“, die die Lücke zwischen Drohnen und Marschflugkörpern schließen soll, wie Präsident Selenskyj ankündigte. Mutmaßlich handelt es sich hierbei um eine Drohne mit Düsenantrieb und schwererem Gefechtskopf. Auch eine selbst produzierte ballistische Rakete sei erstmals erfolgreich getestet worden, sagte Selenskyj. Unabhängige Belege für beides gibt es bislang nicht.
  • Sechs bis zehn F-16-Jets hat die Ukraine laut unterschiedlichen Berichten bisher erhalten – und nun einen davon verloren. Bei der Abwehr des russischen Luftangriffs am Montag sei eine F-16 abgestürzt, teilte der ukrainische Generalstab mit. Der Pilot sei dabei gestorben, die Ursachen noch ungeklärt. Als möglich gelten ein Fehler des Piloten oder ein Abschuss durch die eigene Flugabwehr. Zuvor hatte die Regierung in Kiew mitgeteilt, bei der Abwehr des Luftangriffs seien erstmals F-16-Jets eingesetzt worden.

Ukrainische Kampfjets überfliegen am 29. August die Beerdigung für Obstleutnant Oleksij Mes, den Piloten der am Montag abgestürzten F-16.


Waffenlieferungen und Militärhilfen: Drohnenabwehr und Munition

  • Die USA haben ein Militärhilfspaket im Wert von 125 Millionen Dollar freigegeben. Die Lieferung umfasst nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums Raketen für Himars-Raketenwerfer, Artilleriemunition, Panzerabwehrsysteme und Ausrüstung zur Drohnenabwehr.
  • Auch Litauen hat nach eigenen Angaben Systeme zur Drohnenabwehr in die Ukraine geliefert. Das Land stellte zudem 35 Millionen Euro für den Kauf von Radargeräten und Ausrüstung zur Minensuche bereit.

Unterm Radar: Halbe Hilfe und versprochene Verdopplung

Eine Million Schuss Artilleriemunition wollte die EU der Ukraine innerhalb eines Jahres liefern. Das im März 2023 ausgegebene Ziel wurde jedoch klar verfehlt. Bislang habe die EU 700.000 Stück Munition geliefert, sagte der Außenbeauftragte Josep Borrell am Rande eines Ministergipfels in Brüssel.

Das entspricht umgerechnete einer Lieferung von etwa 41.000 Stück Munition pro Monat. Wäre die versprochene Zahl der Granaten im angekündigten Zeitraum geliefert worden, dann wären es etwa 83.000 Stück monatlich. Die Ukraine verbraucht täglich mehrere Tausend Schuss, Russland deutlich mehr als 10.000. 

Für die Armeen der EU-Mitgliedsländer sei es derzeit schwierig, ihre eigenen Bestände wieder aufzufüllen, geschweige denn, die Lieferungen zu erhöhen, sagte Borrell. Dabei soll letzeres im kommenden Jahr eintreten: Laut älteren Ankündigungen will die EU ab 2025 jährlich zwei Millionen Schuss liefern können.


Ukrainische Soldaten feuern am 21. August aus einer Haubitze in der Nähe von Tschassiw Jar in der Region Donezk.


Der Ausblick: Putin in der Mongolei

Russlands Staatschef Wladimir Putin besucht am Dienstag die Mongolei. Damit reist er zum ersten Mal in einen Staat, der dem Internationalen Strafgerichtshof angehört – und der somit juristisch verpflichtet wäre, ihn festzusetzen und an das Gericht zu übergeben. Seitdem der IStGH einen Haftbefehl gegen Putin erließ, verzichtete er auf solche Besuche. Befürchtungen, die Mongolei könne den Haftbefehl umsetzen, hat die russische Regierung nach Angaben von Putins Sprecher Dmitri Peskow nicht.

In der Mongolei will Putin an der Feier zum 85. Jahrestag einer Schlacht teilnehmen, in der mongolische und sowjetische Truppen einen Sieg gegen Japan erzielten. Zudem will er dort über die Perspektiven einer „strategischen Partnerschaft“ sprechen. Möglich ist auch, dass dabei die geplante Gaspipeline Power of Siberia 2 eine Rolle spielt. Über die Pipeline will Russland künftig deutlich mehr Gas nach China exportieren, um so Verluste auf dem europäischen Markt auszugleichen. 

Doch Berichten zufolge verzögert sich das wichtige Projekt: Die mongolische Regierung habe den Bau der Pipeline, die durch die Mongolei verlaufen soll, nicht in ihre Planung für die kommenden vier Jahre aufgenommen. Der Bau selbst solle fünf Jahre dauern.

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