Krise welcher Bundeswehr: „Pistorius traut sich nachrangig jetzt nicht und schlägt sich in die Büsche“ – WELT
Ob es um Geld, die Wehrpflicht oder militärische Traditionen geht: Verteidigungsminister Pistorius (SPD) ist nicht in der Lage, Forderungen seiner Truppe durchzusetzen. Aus Sicht der Bundeswehr stellt sich die Frage: Was nützt dann noch die Popularität des Ministers?
Boris Pistorius (SPD) geht manchmal auch dahin, wo es weh tut. Zum Beispiel in die Artillerieschule in Idar-Oberstein. In der Ausbildungsstätte werden Heeressoldaten an der Panzerhaubitze 2000 und am Raketenwerfer Mars II gedrillt – also an jenen Waffensystemen, die Deutschland in großem Umfang an die Ukraine abgegeben hat und die deshalb Mangelware in der Bundeswehr sind.
Bei seinem Besuch in der rheinland-pfälzischen Garnisonsstadt versprach der Verteidigungsminister in dieser Woche, dass die Modernisierung der Artillerie im kommenden Jahr beginnen werde. Die Zeiten, in denen zu wenig investiert worden sei, sagte Pistorius, seien vorbei. Was entschlossen klingt, relativiert sich bei näherer Betrachtung. So erläuterte Pistorius den Soldaten, sein Ministerium arbeite an den Beschaffungsvorlagen für das Puls genannte Nachfolgesystem für den Raketenwerfer Mars II. Tatsächlich geht aus einem internen Vermerk seines Ressorts vom 20. August hervor, dass Geld nur noch für solche Wiederbeschaffungen zur Verfügung steht, die bis zum 17. Juli 2024 bereits unter Vertrag waren. Für das Puls-System gilt das nicht.
Nun arbeitet das Wehrressort daran, von Finanzminister Christian Lindner (FDP) noch die nötigen Mittel zu bekommen. Das könnte gelingen – aber nur, falls Pistorius an anderer Stelle in seinem Etat Kürzungen vornimmt. Dabei lautete das Versprechen der Regierung an die Bundeswehr eigentlich, dass alle Ukraine-Nachbeschaffungen aus dem allgemeinen Haushalt finanziert werden sollten. Diese Zusage wurde bereits im vorigen Jahr gebrochen, und so scheint es auch diesmal zu kommen.
Und die Artillerie steht nur stellvertretend für viele Handlungsfelder der Zeitenwende. Es gilt die Formel: Ja, es tut sich etwas. Aber es geht langsam, und es kommt zu wenig zu spät – jedenfalls wenn man Russland als Bedrohung ernst und die deutschen Zusagen an die Nato als Maßstab nimmt.
Das liegt meistens am Geld. Insgesamt hätten die von der Regierung gestoppten Rüstungsvorhaben im Zuge der Ukraine-Nachbeschaffung diesmal ein Volumen von rund 1,95 Milliarden Euro, sagt der CDU-Haushaltspolitiker Ingo Gädechens: „Dieses der Bundeswehr fest zugesprochene Geld wurde im Rahmen der aktuellen Haushaltsdebatte von heute auf morgen gestrichen.“ Das sei „nicht mehr akzeptabel. Es wäre jetzt die Aufgabe von Boris Pistorius, lautstark ‚Stopp‘ zu sagen.“ Doch weil der Minister beim Thema Geld immer wieder den Kürzeren gezogen habe, „traut er sich wohl auch jetzt nicht und schlägt sich in die Büsche“.
Zwei-Prozent-Ziel erreicht die Ampel nur über Schulden
Tatsächlich scheiterte Pistorius bei den Haushaltsverhandlungen wiederholt mit dem Versuch, seinen Kernetat um die von seinen Experten für nötig erachteten Milliardenbeträge aufzustocken. Die Ampel begnügt sich damit, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato vorübergehend schuldenfinanziert durch das sogenannte Sondervermögen zu erreichen. Die nötige Verdopplung des gut 50 Milliarden Euro umfassenden Wehretats nach Auslaufen des Kredits überlässt man einer künftigen Regierung.
Die Folgen dieser Zeitenwende in Zeitlupe lassen sich in einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft nachlesen. Der Titel lautet: „Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Europas und Deutschlands langsame Aufrüstung gegenüber Russland“. Danach sei die Bundesregierung „immer noch viel zu ambitionslos“. Die zwischen März 2022 und Juli 2024 erteilten Rüstungsbestellungen reichten vielfach nur knapp, die aus der Bundeswehr an die Ukraine abfließenden Waffen zu ersetzen – bei Artilleriehaubitzen, Gruß nach Idar-Oberstein, sei der Bestand sogar rückläufig.
Ändern ließe sich das laut der Kieler Wissenschaftler nur mit einem Verteidigungsbudget von dauerhaft mindestens 100 Milliarden Euro pro Jahr – ab sofort, nicht erst nach Auslaufen des Sondervermögens ab 2028. Pistorius räumt freimütig ein, dass die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte sich nicht so schnell aufholen ließen, wie er es sich selbst wünschen würde. „Die Bundeswehr wird kriegstüchtig werden – aber nicht in der Zeit, die ich für richtig und für notwendig halte“, sagte Pistorius in einem Podcast mit Ex-Talkshow-Moderatorin Anne Will.
Schuld daran sind laut Pistorius die Vorgängerregierungen und eine in der Ampelkoalition unterschiedliche „Annäherung an Lösungsansätze“. Seine eigene Arbeit schätzten die Menschen dagegen als erfolgreich ein, sagte der Minister unter Verweis auf seinen Status als beliebtester Politiker Deutschlands am Donnerstagabend bei einer Veranstaltung der „Zeit“. Darüber sei er „froh und dankbar“.
Aus Sicht der Bundeswehr stellt sich freilich die Frage, was ein populärer Minister nützt, wenn er seine Anliegen nicht auf die Straße bekommt. Denn Pistorius scheitert nicht nur an der Beschaffung von Geld. Auch die von ihm angestrebte Einführung einer neuen Art der Wehrpflicht nach schwedischem Modell kommt nur in rudimentärer Form. Stand jetzt ist in der Ampel das verpflichtende Ausfüllen eines Fragebogens für alle 18-Jährigen mehrheitsfähig, schon die Pflicht zur Musterung nicht mehr, und von einer Dienstpflicht gar nicht zu reden.
Auch bei vermeintlich weniger wichtigen Themen gilt oft: Sobald ein Vorschlag auf einen Hauch von Widerstand stößt, gibt Pistorius klein bei. Zum Beispiel beim Traditionserlass. Am 12. Juli 2024 gab das Ministerium „Ergänzende Hinweise“ heraus, um in der Truppe beklagte Schwächen im Traditionsbild zu beheben. So sollten Soldaten, die zwar in der Wehrmacht gedient, aber sich herausragende Verdienste um den Aufbau der Bundeswehr erworben hatten, einbezogen werden. Zunächst fand die Sache keine öffentliche Beachtung. Am 1. August empörte sich dann die „World Socialist Web Site“ über eine vermeintliche Rückbesinnung auf die Wehrmacht, eine Woche später die „taz“, schließlich sprangen „Russia Today“ sowie die russische Botschaft auf den Empörungszug auf. Die Folge: Die „Ergänzenden Hinweise“ wurden am 14. August kassiert.
Es gibt eine Vielzahl ähnlicher Beispiele. Pistorius’ Fachleute empfahlen, das Gefechtsübungszentrum des Heeres weiter durch die Industrie betreiben zu lassen, doch der Minister konnte die Forderung gegenüber der SPD-Fraktion nicht durchsetzen. Das vor Jahren erarbeitete neue digitale Liederbuch der Bundeswehr steckt immer noch in der Warteschleife – auch da fürchtet das Ministerium Traditionsdebatten. Und die Träger des Ehrenkreuzes für Tapferkeit harren weiter der Veröffentlichung ihrer Namen auf der Website des Ressorts. „Was soll das für eine Zeitenwende sein“, fragt der Militärhistoriker Sönke Neitzel, „wenn man sich nicht einmal traut, die Soldaten Lieder singen zu lassen und die höchst Ausgezeichneten herauszustellen?“
Manchmal geht Boris Pistorius eben doch nicht dahin, wo es politisch weh tun könnte.
Politikredakteur Thorsten Jungholt ist zuständig für die Berichterstattung über Bundeswehr, Sicherheitspolitik, Justiz und die FDP.
Source: welt.de