Kolumne „Nine to five“: Mensch schlägt Maschine
Büromenschen verbringen viel Zeit miteinander. So viel, dass sie irgendwann im Gesicht des Gegenübers lesen können, als wäre es ein Familienmitglied. Trägt der Kollege mit den kleinen Kindern wieder dunkle Augenringe und hängende Mundwinkel ins Großraumbüro, ist ihm deshalb Mitgefühl und Fürsorge gewiss. Sicherlich hat er die nächste Schweizer-Käse-Nacht hinter sich: komplett durchlöchert. Also gibt es aufmunternde Worte, einen Schokoriegel und einen starken Kaffee.
Strahlen die Augen der bisher alleinstehenden Kollegin ohne Unterlass, darf die Büroverwandtschaft davon ausgehen, dass aus dem ersten Date ein zweites geworden ist, und sich mit ihr freuen. Und wenn der Fußballlaie weiß, wer für welchen Klub fiebert, kann er jeden Montag die Bundesligaergebnisse in den Gesichtern wiedererkennen und mitreden.
Endlich Teil der Bürofamilie
Der Einzige, der dem Mienenspiel nicht folgen kann, ist Kollege Computer. Er behauptet zwar, alles zu wissen und viel zu können, und will seine Fähigkeiten bald ins Grenzenlose steigern, Stichwort: Künstliche Intelligenz. Die Stimmung im Antlitz eines Menschen zu deuten ist aber nicht seine Stärke. Die heutigen Rechner mögen unsere Arbeit einfacher und besser machen, emotionserkennende Supercomputer gibt es aber nur im Kino. Jedenfalls schien das lange so, genau genommen: bis zu dem Tag, seit dem sich Nutzer per Gesichtserkennung am Computer anmelden. Nun schaut die Laptop-Kamera einem jeden Morgen ganz tief in die Augen, und erst dann beginnt der Tag.
Eine Kollegin berichtete neulich, dass ihr Rechner sie partout nicht arbeiten lassen wollte. Tags zuvor hatte sie abends noch lange am Laptop gesessen. Vielleicht wollte der Computer seine Nutzerin schützen und gleichzeitig seine emotionale Reife beweisen, um endlich Teil der Bürofamilie zu werden. Wahrscheinlicher ist, dass das müde Morgengesicht nicht ganz dem im Computer hinterlegten Abbild entsprach, vielleicht war es auch einfach nur zu dunkel im Büro. So oder so ist es eine gute Nachricht für die Menschheit: Auf gewissen Feldern wird sie der Maschine überlegen bleiben. Während der Computer nichts mehr tut, nachdem er ins Gesicht eines übermüdeten Kollegen geblickt hat, kann der Mensch loseilen und Schokolade und Kaffee holen, am besten extra stark.
In der Kolumne „Nine to five“ schreiben wöchentlich wechselnde Autoren mit einem Augenzwinkern über Kuriositäten im Arbeitsleben.