Klima | Den Kollaps aufhalten

Lea Bonasera sieht sich als Teil der „letzten Generation“. Eine Begegnung mit jungen Menschen, die kein Weiter-so dulden

Fünf junge Frauen laufen zielstrebig auf das Bundeskanzleramt zu. Sie sind nicht gekommen, um den neuen Kanzler Olaf Scholz zu sprechen. Sie haben schon mit ihm gesprochen. Genützt hat es aus ihrer Sicht wenig. Sie sind gekommen, um ihn an ihre Forderungen zu erinnern. Es geht um die Rettung des Klimas. Und damit um die Rettung der Menschheit, wie sie selbst sagen. Dafür haben sie Eimer mit oranger Farbe dabei. Und Pinsel.

Einen Tag vor der Aktion am Kanzleramt hebt Lea Bonasera in einer Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg einen der hölzernen Pinsel hoch und fragt: „Sieht der nicht harmlos aus?“ Später gibt es Kartoffelbrei mit Spinat und Tofuwürfeln, jetzt wird erst einmal geredet. Über das, was die Gruppe antreibt. Sie nennen sich „Aufstand der letzten Generation“.

Das klingt nach Untergangsstimmung und Revolte, aber wenn die Aktivistinnen sprechen, wirken sie nicht radikal, sondern bedacht. Oft verzweifelt. Die meisten sind Anfang 20. Viele haben ihr altes Leben für den Aktivismus aufgegeben, leben konsumreduziert und von Erspartem, manche erhalten auch Hilfe von ihren Eltern. Sie sagen, sie verstünden, dass sie privilegiert seien – gerade deswegen sehen sie sich in der Verantwortung. Fast alle haben sich bei größeren Klimaschutzbewegungen wie Extinction Rebellion oder Ende Gelände engagiert, Straßen blockiert oder sich an Böden festgeklebt. Andere in ihrem Alter gehen zur Uni oder feiern, sie überlegen, wie sie den Planeten retten können. „Es ist schon schwierig geworden, Momente zu finden, in denen man wirklich unbeschwert ist“, sagt Lea nachdenklich. Ihre Zeit verbringt sie damit, wissenschaftliche Texte über die Klimakrise zu lesen oder Aktionen zu planen. Manchmal schreibt sie noch an ihrer Doktorarbeit. Aber auch die hat mit Aktivismus zu tun: Sie handelt von zivilem Ungehorsam.

„Wir sind die letzte Generation, die noch etwas gegen den totalen Klimakollaps tun kann“, sagt Lea. „Wir können also annehmen, dass wir eine klare Aufgabe haben. Oder wir können uns ärgern, dass es nun bei uns liegt.“ Wer sich mit der Klimakrise beschäftigt, weiß, dass unwiderlegbare Kipppunkte existieren, wie das Schmelzen der Arktis, die das Klima fundamental bedrohen. Doch auch wer davon nichts wissen will, hat im Sommer das Hochwasser in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen erlebt, bei dem fast 200 Menschen starben. Trotzdem verschließen viele die Augen. Lea nennt das „Willen zum Nichtwissen“.

Noch fataler aber finden die Aktivistinnen das Nichthandeln der Politik. Weil zu starke wirtschaftliche Macht- und Interessenkonflikte im Weg stünden. Auf ihrem Twitter-Account schreiben sie: „Unser Überleben ist vom Weiter-So bedroht.“ „Irgendwann kommt der Punkt“, sagt Lea, „da müssen alle aktivistisch sein, weil man keine andere Wahl mehr hat. Aber dann ist es womöglich schon zu spät.“ Was sie bräuchten, um von der Regierung wirklich gehört zu werden, wäre ein massiver Aufstand der Gesellschaft. Und zwar jetzt.

Olaf Scholz ortet Größenwahn

Öffentlich wahrgenommen wurde die Gruppe zum ersten Mal, da hatte sie schon zu einer der drastischsten Aktionsformen überhaupt gegriffen: zu einem unbefristeten Hungerstreik. Am 30. August hören sieben junge Menschen in einem Protestcamp neben dem Bundestag mitten im Wahlkampf auf zu essen. Damit wollen sie auf das politische Versagen in der Klimakrise aufmerksam machen – mit ihrem Körper als Druckmittel. Sie fordern ein öffentliches Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten über den Klimanotstand. Am Ende braucht es 27 Tage ohne Nahrung und sieben Stunden ohne Flüssigkeit, bis Olaf Scholz ein solches Gespräch zusagt. Er löst sein Versprechen Anfang November ein, während der Koalitionsverhandlungen, doch eine echte Diskussion kommt nicht zustande. Zu dem Vorwurf, die Politik nehme den Klimawandel nicht ernst genug, sagt Scholz: „Wie kommen Sie eigentlich auf diese größenwahnsinnige Selbsteinschätzung?“

Lea findet: „Vor laufender Kamera hat Olaf Scholz gezeigt, dass er die Dringlichkeit einfach nicht erkennt und somit als Klimakanzler scheitern wird. Diese Erkenntnis war sehr wichtig für den Erfolg unserer Bewegung.“ Das Gespräch mit ihr findet in der spartanisch eingerichteten Berliner Altbauwohnung statt, die sie im Juli mit Henning Jeschke bezogen hat. Er war es, der den Hungerstreik am längsten ausgehalten hat. Um den Druck zu erhöhen, verzichtete Henning mit Lea, die sich später dem Streik anschloss, auch auf Flüssigkeit. Am Ende konnte er sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen.

Während die einen ihre Radikalität unterstützten, sprachen andere von Erpressung. Lea kann diesen Vorwurf nicht nachvollziehen: „Ziviler Ungehorsam ist immer an Forderungen geknüpft. Wir sind doch keine Terroristen, nur weil wir aus Angst heraus agieren.“ An Olaf Scholz richteten sie am Ende des Gesprächs zwei Forderungen: ein Gesetz bis Ende 2021, das Supermärkte dazu verpflichtet, noch genießbares Essen zu spenden, statt es wegzuwerfen. Und: Beschlüsse für eine Agrarwende hin zu einer regenerativen Landwirtschaft bis 2030 in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit. „Wir wollen einfach nur, dass die Regierung das umsetzt, was sie im Koalitionsvertrag verspricht“, sagt Lea. „Wir brauchen ein Zeichen, dass sie es ernst meinen. Das Wegwerf-Gesetz wäre sehr einfach umzusetzen.“ Solange die Regierung das nicht tut, werden sie, wie Lea sagt, „das Land lahmlegen“. Ab Mitte Januar wollen sie Bundesstraßen und Autobahnabfahrten blockieren. Immer und immer wieder. „Wir wollen unignorierbar sein.“

Die Aktivisten beziehen sich immer wieder auf Sir David King. Als wissenschaftlicher Chefberater der britischen Regierung schrieb er bereits 2004: „Aus meiner Sicht ist der Klimawandel das größte Problem, mit dem wir heute zu tun haben. Er ist noch ernster zu nehmen als die Terrorgefahr.“ Ernst genommen hat ihn damals niemand. Zumindest niemand mit politischer Macht. Auch im Ruhestand findet King dringliche Worte. Bei einem Klima-Notfallgipfel in Melbourne dieses Jahr sagte er: „Die nächsten drei bis vier Jahre werden die Zukunft der Menschheit bestimmen.“

Nach der Bundestagswahl entzweite sich die Gruppe darüber, wie der Erfolg des Hungerstreiks zu bewerten sei. Und wie man daran anknüpfen könnte: Radikalisierung oder Neuanfang? Wie wäre ein Hungerstreik überhaupt noch zu überbieten? Ein Teil macht nun als „Aufstand der letzten Generation“ weiter, ein anderer als „Aufbruch“. Ähnliche Namen mit ähnlichen Zielen, aber unterschiedlichen Methoden. Während der „Aufstand“ den zivilen Ungehorsam als wirksamstes Mittel zur Veränderung betrachtet, arbeitet der „Aufbruch“ an einer langfristigen Strategie.

Um den „Aufbruch“ voranzutreiben, sind vier junge Menschen kürzlich in eine Wohnung in Dortmund gezogen. Diese wollen sie zu einem aktivistischen Zentrum ausbauen. Es gibt ein „stilles“ und ein „lautes“ Arbeitszimmer. An einem frühen Freitagmorgen sitzen drei Aktivisten auf einem Sofa und schauen wach in die Kamera eines Laptops. Es sind Hannah Lübbert, die im Hungerstreik-Camp die Pressearbeit übernommen hat, Lina Eichler, die sich am Hungerstreik beteiligt hat und am 20. Tag zusammengebrochen ist, und Artemis, die ihren echten Namen aus Angst vor Repressionen nicht veröffentlichen möchte. Beim Hungerstreik hat sie sich telefonisch um junge Menschen gekümmert, die aus Solidarität zu Hause mitgehungert haben. Gleich zu Beginn des Gesprächs stellen sie klar: „Wir sehen uns nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zum ‚Aufstand‘.“

Was der „Aufbruch“ anstrebt: eine strategische Vernetzung für einen systemischen Umbruch. Vielleicht zu einer Gemeinwohl-Ökonomie. Kooperation statt Konkurrenz. Die drei sind sich einig, dass man keine Veränderungen der Klimapolitik fordern kann, wenn das politische und wirtschaftliche System gegen das Klima arbeitet. Hannah meint: „Wenn man es schafft, Kämpfe von verschiedenen Organisationen zu vereinen, dann können wir einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen.“ Aktuell planen sie eine Strategiekonferenz.

„Wir brauchen viele Bürgerräte“, sagt Artemis. Wie das geht, zeigte in diesem Jahr der erste bundesweite Bürgerrat zum Thema Klima: 160 Menschen, zufällig ausgelost, erarbeiteten konkrete Empfehlungen für die Klimapolitik. Darauf basierend könnte die Bundesregierung Gesetze vorlegen. „Solange sie das nicht tut“, meint dazu Lina, „bleibt es leider bei einem basisdemokratischen Versuch.“ Dann verabschiedet sie sich. Sie muss noch in die Schule. Eine Deutschklausur schreiben.

Fragt man die Aktivistinnen und Aktivisten von „Aufstand“ und „Aufbruch“, was ihre Eltern davon halten, wenn sie Schule oder Studium als zweitrangig betrachten, sagen sie: „Unsere Eltern akzeptieren das. Aber sie verstehen die Dringlichkeit nicht so ganz.“

Lina muss zur Deutschklausur

Zurück in Berlin. „Das Problem ist, dass es in Deutschland keine große Widerstandskultur gibt“, sagt Lea. Sie denkt nicht an eine Klima-RAF, sondern an gewaltfreien Widerstand. „Gewaltfreiheit ist immer effektiver als Gewalt. Und moralisch richtig.“ Dann kommt sie ins Schwärmen, wenn sie von vergangenen Protestbewegungen spricht. Sie erzählt von den amerikanischen „Freedom Riders“, die 1961 Busfahrten unternahmen und dabei die Segregation von Schwarzen und Weißen bewusst ignorierten. Oder von den Suffragetten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für ein allgemeines Frauenwahlrecht eintraten. „Solche Bewegungen haben ganz wichtige Transformationen in der Demokratie hervorgerufen. Das wollen wir auch.“

Und so laufen fünf junge Frauen zielstrebig auf das Bundeskanzleramt zu. Es ist ein grauer Dezembermorgen. An einer weißen Fassade bleiben sie stehen, schnappen sich die Eimer mit oranger Farbe und die Pinsel und beginnen, ihre beiden Forderungen in krakeligen, aber lesbaren Lettern aufzuschreiben: 1. ESSEN RETTEN GESETZ JETZT! 2. AGRARWENDE 2030. Die Zeit reicht noch für eine kurze Rede mit Banner, dann treffen zwei Polizisten ein. Die Frauen laufen weiter, zu einer anderen weißen Wand. Diesmal wollen sie den neuen Kanzler direkt adressieren. Doch dann sind zu viele Polizisten da, die die Aktion stoppen. Die Aktivistinnen wollen weitermachen, am Ende werden sie festgenommen. Reinigungskräfte beginnen die Fassaden zu säubern. Aber die, die es wissen, können aus dem orangen O, dem L, dem A, dem halben F und einem abgelegenen K entziffern: Olaf Scholz ist kein Klimakanzler.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.