Kinofilm „Ellbogen“: Nirgendwo zu Hause

Wer in den letzten Wochen die mediale Berichterstattung verfolgt und dem Volk „aufs Maul geschaut“ hat, hörte die üblichen rassistischen Phrasen und populistischen Forderungen. Deren moderatere Essenz ließe sich mit: „Migrant*innen sollen sich integrieren!“ zusammenfassen. Was aber, wenn die deutsche Mehrheitsgesellschaft das gar nicht erst zulässt und die eingeforderte Integration sowohl Geflüchteten als auch Menschen mit Migrationsgeschichte in zweiter und dritter Generation unendlich schwer macht?

Aslı Özarslans Debütspielfilm Ellbogen nimmt genau das in den Blick. Im Zentrum steht die 17-jährige Hazal, geboren in Berlin-Wedding. Wie alle jungen Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden hofft Hazal, dass ihr Leben jetzt so richtig losgeht. Sie jobbt in einer Bäckerei, will aber einen Ausbildungsplatz finden und mehr aus ihrem Leben machen. Mehr als das, was ihre unglückliche Mutter ihr vorlebt. Aber Hazal passt nicht hinein. Nirgends. Sie schreibt unzählige Bewerbungen, ohne Erfolg. An ihrem 18. Geburtstag will sie alles vergessen und es krachen lassen. Gemeinsam mit den Freundinnen Elma und Gül brezelt sie sich auf, fühlt sich stark und schön. Als die drei aber am Türsteher eines angesagten Clubs scheitern, kippt die Stimmung. Frustriert und wütend marschieren die drei jungen Frauen in ihren schicken Abendkleidern in die U-Bahn. Prompt werden sie von einem jungen Typen dumm von der Seite angequatscht. Das Maß ist voll, die Situation eskaliert und am Ende liegt er tot auf dem Boden.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Debütroman von Fatma Aydemir, der 2017 kontrovers diskutiert wurde. Die Journalistin und ehemalige taz-Redakteurin gab 2019 gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah außerdem den Essayband Eure Heimat ist unser Albtraum heraus, in dem sie und 15 weitere Autor*innen von ihren alltäglichen Rassismuserfahrungen in Deutschland berichten. Aydemir weiß also, wovon sie schreibt.

Eingebetteter Medieninhalt

Regisseurin Aslı Özarslan gelingt es, den rauen Ton der Romanvorlage besonders in der ersten Hälfte zu adaptieren. Die Besetzung der Protagonistinnen mit den Laiendarstellerinnen Melia Kara, Jamilah Bagdach und Asya Utku schafft eine authentische Dynamik, ihre Chemie stimmt. Die Szenen, in denen die Freundinnen miteinander chillen, rauchen und sich ihre Zukunft ausmalen, geben Einblick in eine selten gezeigte Peergroup. Denn geht es um junge Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland, stehen meist das Gangstermilieu und männliche Macker in Serien wie 4 Blocks, Dogs of Berlin oder Skylines im Mittelpunkt. Frauen sind meist nur Randfiguren. Darin, ihre Perspektive einzunehmen, ist sowohl Aydemirs Roman als auch Özarslans Film ziemlich einzigartig.

Leider alltäglich sind dagegen die Rassismuserfahrungen, die Hazal und ihre Freundinnen erleben. Schmerzhaft sind dabei nicht nur die offenkundigen Diskriminierungen. Es sind die Mikroaggressionen, die sie schon ihr Leben lang begleiten und die wie kontinuierliche Nadelstiche ihre Persönlichkeit geprägt haben. Özarslan findet dafür subtile und dennoch eindrückliche Bilder: Die Autokorrektur, die Hazals Vor- und Nachnamen partout nicht erkennt. Der Ladendetektiv, der ihr in Racial-Profiling-Manier einen Diebstahl unterstellt und die in Berlin geborene Hazal ermahnt: „In Deutschland gibt es Regeln und wenn du vorhast zu bleiben, würde ich die möglichst schnell lernen.“ Die Frau, die ein Bewerbungsgespräch mit ihr für eine Ausbildungsstelle im Altenheim führt und ihr nur ein Praktikum anbietet, weil ihr angeblich die Allgemeinbildung fehle. Dadurch wird nachvollziehbar, dass Hazal die von ihr geforderte Integration entgegen aller Bemühungen so lange verweigert wird, bis ihre Verzweiflung darüber in Wut umschlägt.

Trotzdem erzählt Ellbogen nicht von einer bewussten Abkehr oder Radikalisierung, sondern von einem dummen Zufall und dem Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Hazal flieht nach dem Vorfall in der U-Bahn in einer Kurzschlussreaktion nach Istanbul und kommt bei ihrer Internet-Bekanntschaft Mehmet unter. Aber auch im Herkunftsland ihrer Eltern bleibt sie eine Fremde. Die Momentaufnahmen in der türkischen Metropole gelingen Özarslan dabei nicht so packend wie zuvor in Berlin. Die positiven wie negativen Stationen, die Hazal in Istanbul durchlebt – ungezwungenes Feiern im Club, Mehmets Drogensucht, dessen politisch aktiver Mitbewohner, polizeiliche Willkür – wirken etwas plakativ. Andererseits spiegelt diese fragmentierte Erzählweise Hazals Situation treffend wider, die immer zielloser durch eine ihr fremde Stadt schlittert und mehr und mehr den Halt verliert.

Die große Stärke der zweiten Filmhälfte ist, dass Hazals Figur ambivalent und dadurch realistisch bleibt. Schauspieldebütantin Melia Kara verleiht Hazal dabei eine spezielle Präsenz. Gleichzeitig unsicher und tough, verzweifelt und mutig kämpft sie gegen Schuldgefühle, Heimweh und Angst an und schottet sich gegen die Einsicht ab, dass ihr altes Leben endgültig vorbei ist. Obwohl sie nicht durchgehend sympathisch ist und ihre Entscheidungen nicht immer nachvollziehbar sind, bleibt die Perspektive konsequent bei ihr und mit ihr die Empathie der Zuschauer*innen. Bis Hazal mit einem letzten, eindringlichen Blick in die Kamera verschwindet, hoffen wir auf ein Happy End für sie.

Ellbogen Asli Özarslan Deutschland 2024; 86 Minuten