Kaja Kallas: Als EU-Außenbeauftragte keine Diplomatin

Kaja Kallas, 47, polarisiert. In Moskau wird die estnische Premierministerin mit Haftbefehl gesucht, weil sie den Abriss sowjetischer Kriegerdenkmale in ihrem Land veranlasst hat. In Medien des Westens hingegen wird ihr als „Eiserne aus dem Baltikum“ teilweise ein Kultstatus verliehen. Dafür empfiehlt sie sich durch den steten Aufruf, man müsse „der Ukraine helfen, diesen Krieg zu gewinnen“. Damit ist Kallas, die zeitweilig in den USA Jura studierte, zur Lieblingseuropäerin amerikanischer Hardliner avanciert. Abgeschlossen hat sie ihr Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Tartu in Estland.

2010 wandte sie sich der Politik zu und wurde Mitglied der wirtschaftsliberalen Reformpartei, deren Vorsitzender bis 2004 ihr Vater Siim Kallas war – als estnischer Regierungschef der energische Befürworter eines NATO-Beitritts. Als die Tochter 2014 ins EU-Parlament gewählt wurde, übernahm sie ihr Mandat weiterhin als Mitglied der Reformpartei. Seither findet sie auf europäischer Ebene Beachtung. Dies umso mehr, als sie Anfang 2021 dank des Regierungsauftrags von Präsidentin Kersti Kaljulaid zur ersten Premierministerin Estlands aufsteigen konnte.

Kallas’ unversöhnliche Haltung gegenüber Russland liegt nicht zuletzt in ihrer Familiengeschichte begründet. Ihr Urgroßvater war nach dem Bürgerkrieg von 1918 bis 1920 gegen Sowjetrussland wie die deutsche baltische Landeswehr estnischer Polizei- und Geheimdienstchef. Ihm oblag die Verfolgung von Kommunisten und Russland-Freunden. 1940, nach gut zwei Jahrzehnten der Unabhängigkeit, wurde Estland von der UdSSR zur Sowjetrepublik erklärt und annektiert. Es folgte ab 1941 das Besatzungsregime der deutschen Wehrmacht. Als sich nach der Befreiung im Herbst 1944 wieder die Sowjetmacht etablierte, wurden Kallas’ Großmutter und deren sechs Monate alte Tochter für zehn Jahre nach Sibirien deportiert.

Die Umstände, unter denen sie aufwuchs, die Erzählungen über schreckliche Schicksale von Esten in der Ära Stalin prägten eine Persönlichkeit, die keinerlei Kompromisse gegenüber Russland, erst recht nicht gegenüber der russischen Minderheit in Estland kennt. Als Regierungschefin sorgte Kallas dafür, dass in dem zweisprachigen Land der Russischunterricht in den Schulen abgeschafft wurde, auch in der vorwiegend von Russen bewohnten Stadt Narwa.

In Interviews vermeidet Kallas jeden Gedanken daran, dass Estland – unter Peter dem Großen Teil des Russischen Reiches – mit den Russen mehr gemeinsam hat als eine Geschichte des Gulag. Mit kaltem Lächeln, das zu ihrem Markenzeichen wurde, überging sie stets die Meinung jener gut 25 bis 30 Prozent der Esten, die laut Umfragen Russland nicht als Bedrohung sehen. Ebenso ignorierte sie die Tatsache, dass Menschen aus Estland freiwillig in Russland leben. Zu ihnen gehört Anton Waino, Leiter der Präsidialverwaltung in Moskau, ein erfahrener Diplomat, fünf Jahre älter als Kallas. Ein Gespräch unter Esten als Beginn einer Entspannung wäre für Kallas undenkbar.

Dennoch konnte sie im März in Berlin den Preis der Walther-Rathenau-Stiftung entgegennehmen. Mit der Auszeichnung wird „ein herausragendes außenpolitisches Lebenswerk gewürdigt“, was mittlerweile wie die Vergabe von Vorschuss-Lorbeer für das nun in Aussicht stehende Amt der EU-Außenbeauftragten wirkt. Die Laudatio hielt Außenministerin Annalena Baerbock, die Kallas als „Führungsperson“ pries, die so effizient wie mutig sei. Baerbock zitierte das Statement von Kallas auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, als sie dem Auditorium nahelegte, „keine Angst vor unserer eigenen Macht“ zu haben. So spricht eine Meisterin der Eskalation.

Bei der Verleihung des Preises, den zuvor Hans-Dietrich Genscher, Hillary Clinton und Angela Merkel erhielten, blieb die Frage ausgeklammert, was Kallas mit Walther Rathenau verband, den im Juni 1922 im Berliner Grunewald der tödliche Hass russophober Nationalisten traf, weil er als deutscher Außenminister für Verständigung mit Sowjetrussland eingetreten war. Rathenau hielt wenig von Feindseligkeit und Sanktionen, mehr von Kooperation und Koexistenz, wie das mit dem Vertrag von Rapallo im April 1922 beabsichtigt war.

Kallas’ Obsession, Russland als das absolut Böse zu verteufeln, hinterlässt bei der Weltmehrheit im Globalen Süden wenig Eindruck. Auf der zugunsten der Ukraine veranstalteten Konferenz in der Schweiz Mitte Juni erklärt Kallas: „Viele Länder haben unter dem Kolonialismus gelitten, auch mein Land, das bis 1990 fast ein halbes Jahrhundert lang Teil des imperialen Russlands war.“ In Afrika verhallen solche Worte. Weder das Russland der Zaren noch die UdSSR waren dort je Kolonialmächte. Jeder Afrikaner weiß, was Kallas ausblendet: Die Sowjetunion spielt eine Schlüsselrolle beim Überwinden des Kolonialismus. Die Entscheidung der EU, Kallas als „Außenministerin“ zu nominieren, ist der Verzicht Europas darauf, bei denkbaren Verhandlungen über eine Waffenruhe in der Ukraine auf Vermittlung zu setzen.