Julian Assange: Ein Bild von einem Whistleblower

Julian Assange steigt in ein Flugzeug. Eine unscharfes, überbelichtetes Bild, mutmaßlich ein Still aus einer kurzen Videosequenz, zeigt ihn aus leichter Untersicht, wie er, noch auf britischem Boden, die wenigen Stufen hinaufgeht in eine gecharterte Maschine, in Jeans und Hemd, den rechten Ärmel hochgekrempelt, den Kopf leicht gesenkt. Keine Kämpferpose, keine nach oben gereckte Faust, kein triumphierender Abschiedsgruß. „Ein körperlich gebrochener Mann“, wird gemutmaßt, das mag man glauben oder nicht. „Vista Jet“ ist auf dem Rumpf des Flugzeugs zu lesen, besser hätte der Name der privaten Fluggesellschaft nicht passen können: für Assange und Millionen seiner Anhänger wohl ein echter „Vista“-Moment, ein Moment der Aussicht und des Ausblicks, ein Flug in die Freiheit. 

Die seit gestern kursierenden Fotografien und Videos des Flugpassagiers Assange kamen überraschend. So gut wie niemand dürfte mit ihnen gerechnet haben. Entsprechend wurden sie als Dokumente einer Sensation in Szene gesetzt. Darin liegt die bildpolitische Kontinuität: Seit den frühen Wikileaks waren es Bilder, verstanden als Dokumente, die Assanges Aufstieg zu einer global beachteten Figur begründeten. Auf die Veröffentlichung von als geheim eingestuften Videos aus amerikanischen Militärkreisen vor 14 Jahren folgte die Ikonisierung von Assange selbst. Enthüllung und Selbstpräsentation gingen Hand in Hand. Bald schien unklar, was das eigentliche Anliegen von Assange gewesen sein mochte: Diente die mediale Selbstvermarktung dem Enthüllungsengagement – oder war dieses, umgekehrt, eher Mittel für Assanges Medienkarriere?

Bilder für den Opfermythos

Im Zentrum der Beachtung stand Assanges Körper. Dieser vollzog im Laufe der Jahre derart spektakuläre Wandlungen, dass die Öffentlichkeit daran allzu gern auch übergeordnete Themen und Wandlungen abzulesen versuchte. Auftritte auf dem Balkon der ecuadorianischen Botschaft in London gerieten zum globalen hermeneutischen Wettstreit: Wie fit ist Assange, wie sehr noch der Alte, wie ramponiert? Und was lässt sich aus dem Körperzustand über das diplomatische, juristische, politische Tauziehen zwischen Großbritannien, Schweden, Ecuador, Australien und den USA ablesen? Als die britische Polizei im April 2019 einen scheinbar vergreisten, entkräftet wirkenden Assange aus der Botschaft schleppte, waren sich viele sicher: Das Körperleiden dokumentiere die systematische Unterdrückung und Verfolgung, die dem Wahrheitsfinder widerfahre. Spätestens mit dieser bildgewaltigen Szene war der Mythos eines Opfers geboren. 

Assanges Verbündete unterstützen diese Inszenierung nach Kräften. Plakate, Sticker und Poster zeigten und zeigen ihr Vorbild mit amerikanischer Flagge, die über seinen Mund gelegt ist. „Free Assange“ ist zum Fanal gegen angeblich staatliche Willkür geworden. Die Bildinszenierungen von WikiLeaks unterscheiden sich kaum von jenen visuellen Praktiken, die mittlerweile in Querdenker- und verschwörungsideologischen Szenen gebräuchlich sind: Freien Menschen wird von einer aus dem Dunklen kommenden Hand, von einer übermächtigen Instanz, der Mund zugehalten. Diese Ähnlichkeit der Bildsprachen verdeutlicht, dass auch die aktivistische Bewegung um Assange in der Gefahr steht, einen gefahrvollen, hinter den Kulissen agierenden Machtapparat zu imaginieren. Damit drohte und droht die Bewegung im Kampf um Aufmerksamkeit preiszugeben, was ursprüngliches Ziel des Whistleblowing war: das Veröffentlichen von Quellen, ohne diese einer die Rezeption prägenden Wertung zu unterziehen. WikiLeaks langfristiges Ziel war gerade nicht der Kampf gegen bestimmte Mächte, sondern: die Wahrnehmung zu schärfen und das politische Bewusstsein zu konkretisieren.