Javier Milei im Porträt: Der Provokateur aus Argentinien in Deutschland

Ein Mann im dunklen Anzug betritt schnellen Schrittes die Bühne, er sucht nach seiner Brille. Endlich kramt er sie hervor, dann fängt er an zu reden, ein bisschen monoton zunächst, dann stakkatohaft. Die Geschwindigkeit überfordert den Simultanübersetzer, doch die Kernbotschaft kommt durch. „Die Welt ist in Gefahr“, sagt der Mann und warnt vor Sozialismus, der unweigerlich in die Armut führe. Dann blickt er fast ein wenig streng in das voll besetzte Kongresszentrum. „Lassen Sie sich von niemandem sagen, dass Ihr Ehrgeiz und Ihre Ambitionen unmoralisch seien.“

Im Saal klatschen die ersten Zuhörer, der Applaus kommt erst zögerlich, wird dann immer stärker. Elon Musk, Chef des Elektroautobauers Tesla und nie um ein provokantes Statement verlegen, wird nachher auf der Plattform X schreiben: Die Rede sei „heiß“ gewesen (im Englischen: „so hot“).

Ein Ökonom, der schwer zu fassen ist

Gehalten hat die Rede ein 53-jähriger Ökonom aus Buenos Aires: Javier Milei, seit Dezember 2023 argentinischer Staatspräsident und Stargast des Weltwirtschaftsforums im schweizerischen Davos, wo sich jedes Jahr im Januar Wirtschaftsführer und Politiker zum Austausch treffen. So viel Euphorie hat dort schon lange kein lateinamerikanischer Politiker mehr ausgelöst. Den befremdlichen Auftritt des früheren brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro im Jahr 2019 haben nicht wenige noch in schlechter Erinnerung.

Javier Milei nun einfach nur als Ökonom zu titulieren würde seiner in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Erscheinung jedoch nicht gerecht: Der 53-Jährige ist zu einem Phänomen der internationalen Politik geworden, das die einen ablehnen und die anderen feiern – das aber alle auf irgendeine Weise fasziniert. Denn einerseits ist Milei als Sohn eines Busfahrers (und späteren Busunternehmers) kein typisches Kind der Oberschicht, andererseits jubeln ihm die Wirtschaftsführer in Davos zu. Er vertritt einerseits radikale wirtschaftspolitische Ansichten, die die Rolle des Staates kritisch sehen, steht aber andererseits an der Spitze des Staatsapparates, den er eigentlich abschaffen will. Er erinnert vom Stil her an den früheren US-Präsidenten Donald Trump, zeigt sich aber zugleich unverbrüchlich an der Seite der Ukraine.

Mit einem Satz: Javier Milei ist schwer zu fassen. Vielleicht macht ihn gerade das so interessant in einer Welt, die heute mehr denn je zu Einteilungen in Schwarz oder Weiß neigt und Grauschattierungen vermeidet. Ja, womöglich ist gerade diese Widersprüchlichkeit sein eigentliches Erfolgsgeheimnis, weil sie ihn für verschiedene Seiten anschlussfähig macht. Oliver Stuenkel, Professor an der Fundação Getulio Vargas in São Paulo und Kenner der lateinamerikanischen Politik, sagt: „Milei entzieht sich einfachen Kategorisierungen. Er lehnt Frauenrechte und Klimaschutz ab, hier sind seine Ansichten höchst problematisch. Andererseits macht er im wirtschaftlichen Bereich Vorschläge, die von vielen Experten gelobt werden, zum Beispiel vom Internationalen Währungsfonds (IWF).“

Wer die argentinische Historie ein wenig kennt, weiß: Lob vom in Washington ansässigen IWF hätte früher zum Verlust der Wählergunst geführt – schließlich verbindet Argentinien und den Fonds eine wechselvolle Geschichte. Zu oft hat das südamerikanische Land seine Schulden schon nicht zurückzahlen können, zu oft hat der Fonds neue Kredite nur unter strengen Auflagen gewährt. Deshalb ist er in Teilen der Bevölkerung verhasst.

Dass Milei trotzdem die Wahl im vergangenen Jahr mit rund 55 Prozent Zustimmung überzeugend gewann, mag darum auf den ersten Blick überraschend sein. Auf den zweiten Blick ist es dagegen nur folgerichtig. „Die wirtschaftliche Situation in Argentinien war viele Jahre so katastrophal, und so viele Präsidenten sind daran gescheitert, dass die Menschen jetzt bereit sind, etwas ganz anderes zu probieren“, sagt Fachmann Stuenkel. Die Toleranz, einen ungewöhnlichen Stil und sogar eine zeitweilige Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zu ertragen, sei hoch – wenn es dem Land am Ende nur wirklich besser gehe.

Mit ihm wird es schmerzhaft

Nichts anderes hatte Milei vor seiner Wahl den Argentiniern gesagt. Mit ihm an der Staatsspitze werde es erst einmal für fast alle schmerzhaft. Nur so könne das Land die Dauerkrise aus hohen Schulden und hoher Inflation überwinden: Zweistellige Teuerungsraten sind in Argentinien seit Jahren an der Tagesordnung. Bald aber würden sich die Maßnahmen dann in höherem Wirtschaftswachstum und besseren Lebensbedingungen für alle auszahlen, verspricht Milei.

So dahingeschrieben, klingt auch das nach Aussagen, die so oder so ähnlich viele Ökonomen äußern könnten. Bei Milei allerdings wird alles überstrahlt von seiner Exzentrik. Es fängt an bei seiner ungewöhnlichen Haartolle, die ihm im Land den Spitznamen „Peluca“ (Perücke) eingebracht hat. Es geht weiter mit seiner Behauptung, er könne Geister sehen und halte spirituelle Sitzungen ab, in denen er sich mit seinem verstorbenen Lieblingshund berate. Und es findet seinen Höhepunkt in seinen Wahlkampfauftritten, die er meist in schwarzer Lederjacke absolvierte und bei denen er zu dröhnender Musik eine Kettensäge über dem Kopf schwang. Damit wolle er den ausufernden Staat zurechtstutzen, rief Milei dabei der jubelnden Menge immer wieder zu.

Von einer Atmosphäre wie auf Rockkonzerten berichteten die Medien, was im Falle Mileis gar nicht so abwegig ist, versuchte er sich doch eine Zeit lang als Musiker in einer Rolling-Stones-Coverband. Sogar als Staatspräsident hat er jüngst noch ein paar Songs eingespielt. Bei seinen Auftritten skandierten die Fans allerdings keine nationalen oder internationalen Superhits, sondern vor allem einen Satz: „No hay plata.“ Zu Deutsch: „Es gibt kein Geld.“ Es dürfte in der Geschichte verschuldeter Staaten ein Novum sein, dass aus einer ökonomischen Zustandsbeschreibung eine Art Rocksong wurde.

Man kann diese Exzentrik seltsam finden. Für Milei erfüllt sie jedoch vor allem einen politischen Zweck. Sie verschafft ihm Aufmerksamkeit. Nur so konnte der politische Quereinsteiger, der keine traditionelle Partei hinter sich hat, es überhaupt erst in den argentinischen Präsidentenpalast schaffen, die Casa Rosada. Er ­inszenierte sich zunächst in Fernsehauftritten als Ökonom, der alles anders sah als die typischen Experten, und durfte dann sogar in einer eigenen Radiosendung regelmäßig provozieren. Diese mediale Aufstiegsgeschichte Mileis verbindet ihn mit Donald Trump, der im amerikanischen Fernsehen als Gastgeber der Sendung „The Apprentice“ („Der Lehrling“) bekannt wurde. Der Sieger der Show erhielt einen Einjahresvertrag im Immobilienunternehmen des späteren US-Präsidenten. Trump und Milei sind sich schon begegnet, der Argentinier hat sich das Motto des Amerikaners abgeschaut. Bei ihm lautet es nur ein kleines bisschen anders: „Make Argentina great again“ (Mach Argentinien wieder groß).

Spätestens hier aber enden die Parallelen. Denn während Trump sich vor allem als Protektionist hervortut, dem kein Zoll zu hoch sein kann, verfolgt Milei das gegenteilige Programm: Den Staatseinfluss, den vor allem die lange regierende Partei der Peronisten in Argentinien hochhielt, will er zurückdrängen. Auch in anderer Hinsicht ist der Vergleich nicht stimmig. Milei hat vor seiner politischen Karriere mehrere Jahre als Wirtschaftswissenschaftler gearbeitet, er versteht die Materie auch in der Theorie – ganz anders als der Bauchmensch Trump.

Hayek und der Anarchokapitalismus

Allerdings hängt Milei einer Denkrichtung an, die in der weltweiten Ökonomenszene keine große Rolle mehr spielt, der sogenannten „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“. Zu ihr gehörte auch der österreichische Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899–1992). Dessen liberale Ansichten über den Markt als bestes Koordinationsinstrument des Wirtschaftsgeschehens finden in der deutschen Volkswirtschaftslehre noch immer einige Unterstützung.

Doch Javier Milei geht weit darüber hinaus. Häufig bezeichnet er sich selbst als „Anarchokapitalist“. Diese Gruppe lehnt jede Art von staatlichen Regeln für das Wirtschaftsgeschehen ab, nicht einmal staatliche Institutionen wie beispielsweise Kartellbehörden hält sie für nötig. Daher kommt Mileis Ruf, ein Radikaler zu sein. Wie stolz er auf seine Kenntnis solcher Denkschulen ist, zeigt ein Detail. Der argentinische Staatspräsident ist momentan auf Europareise, an diesem Samstag verschafft er einer nur unter Ökonomen bekannten Gesellschaft besondere Aufmerksamkeit: Die Hayek-Gesellschaft, die in jüngster Zeit vor allem durch interne Streitereien von sich reden machte, verleiht ihm ihre Medaille. Einen Tag später trifft Milei dann Kanzler Olaf Scholz.

Aber wie hart setzt der Argentinier nun das um, was er lange mit lauten Worten gepredigt hat? Längst nicht so radikal wie gedacht, oft sogar ausgesprochen pragmatisch, sagen Fachleute wie Claus Born, Aktienexperte für Schwellenländer bei der Fondsgesellschaft Franklin Templeton. Born hat selbst fast zwanzig Jahre in Argentinien gelebt, er kennt sowohl die Stimmung der Menschen auf der Straße als auch die Ansichten internationaler Investoren. „Der Finanzmarkt traut Milei eine Menge zu“, sagt Born. Die Kurse seien kräftig gestiegen. Die normalen Menschen dagegen spürten die Härte mancher Reformen, aber noch hielten sie zu ihm. „Viele sagen: Da müssen wir jetzt durch.“ In aktuellen Meinungsumfragen zeigen sich noch immer mehr als 50 Prozent der Argentinier von Mileis Vorgehen überzeugt – Zustimmungswerte, von denen deutsche Politiker nur träumen können.

Alles hängt an der Inflation

Tatsächlich ist es für den neuen Präsidenten gar nicht so leicht, Veränderungen durchzusetzen. Er hat im Parlament, das er mal als „Rattennest“ bezeichnete, keine eigene Mehrheit, muss also bei manchen Vorhaben ziemliche Abstriche machen. Trotz seiner beleidigenden Sprache ist ihm (und seinen deutlich pragmatischeren engsten Mitstreitern) zuletzt ein Achtungssieg gelungen. Mit knapper Mehrheit nahm der Senat ein Gesetzespaket an, das unter anderem die Privatisierung von Staatsbetrieben durchsetzt und neue Investitionsanreize schaffen soll. Mileis geplante Steuerreform wurde hingegen abgelehnt.

Entscheidend für Mileis Erfolg wird aber vor allem die Bekämpfung der Inflation sein. Gleich nach seinem Amtsantritt ließ er die argentinische Landeswährung Peso um mehr als 50 Prozent abwerten, das hat zunächst einen gewaltigen Inflationsschub verursacht. Im Jahresvergleich ist die Teuerung auf mehr als 270 Prozent angestiegen. Aber die Inflationsrate fällt, wenn man die Entwicklung von Monat zu Monat betrachtet: Zwischen April und Mai betrug der Anstieg nur noch knapp vier Prozent.

Das ist ein erstes Indiz dafür, dass die Maßnahmen des Präsidenten so wirken wie gewünscht. Anders als die Vorgängerregierungen setzt Milei nämlich nicht mehr auf die Notenpresse, um ausstehende Schulden zu begleichen. Außerdem ist angesichts der heftigen Preisanstiege die Nachfrage eingebrochen, die Wirtschaft erlebt eine schwere Rezession. Milei hat zudem die Staatsausgaben drastisch gekürzt, erstmals seit Langem kommt der Staatshaushalt wieder auf einen Überschuss. Er sagt, dies seien gute Voraussetzungen für einen baldigen Aufschwung.

Das Alltagsleben der Menschen hat sich trotzdem sehr verschlechtert. Das zeigt sich an ganz normalen Dingen: Ein Busticket kostet heute zehnmal so viel wie noch vor ein paar Monaten. Bis tief in die Mittelschicht hinein sind die Folgen von Mileis Maßnahmen zu spüren. Im Land des Steaks geht der Fleischkonsum wegen der gestiegenen Preise zurück. Aber nicht nur im Supermarkt wird alles teurer, Gleiches gilt auch für Schulgebühren, die Kosten für die Krankenversicherung, die Ausgaben für Strom und Gas. So gut wie jeder Lebensbereich ist betroffen.

Erste große Proteste gegen Mileis Schocktherapie hat es bereits gegeben. Sie scheinen den exzentrischen Staatspräsidenten nicht zu schrecken. Dieser Tage hat er in der ihm eigenen Sprache gesagt: „Bald wird die Wirtschaft abgehen wie der Furz eines Tauchers.“