Japan – Dystopische Welt in Hiroko Oyamadas „Das Loch“: Die Geschichte eines gnadenlosen Sommers

Am Anfang von Hiroko Oyamadas gefeiertem Roman Das Loch steht ein ganz pragmatisches Arrangement – die Protagonistin Asahi zieht mit ihrem Mann Muneaki aufs Land, weil er von seinem Arbeitgeber dorthin versetzt wurde. Zufällig kommt er aus der Gegend, wo die neue Geschäftsstelle ist, und zufällig besitzen seine Eltern ein weiteres leer stehendes Häuschen gleich neben ihrem eigenen. Das kinderlose Paar müsste keine Miete zahlen, Asahi bräuchte daher weder umständlich in die Großstadt zu ihrer bisherigen Arbeit pendeln noch sich sofort nach einem neuen Job umsehen. Warum sollte man solch günstige Umstände nicht nutzen? Die nunmehr in der Stadt zurückgelassene frühere Kollegin ist jedenfalls sicher, dass Asahi es gut erwischt hat: Jetzt kann sie den ganzen Tag Brot backen und in aller Ruhe den Haushalt erledigen.

Wie unvertraut Asahi mit ihrer Familie ist, irritiert – eine tiefe Einsamkeit durchzieht den Roman, obwohl er eigentlich viel Personal aufweist. Doch der Schwiegervater ist kaum da, dauernd scheint er zu golfen, der Großvater gießt den ganzen Tag stumm den Garten, Muneaki starrt permanent in sein Handy und die Protagonistin kann nur vermuten, mit wem er in Dauerkontakt steht (na klar, mit seinen Freunden). Weshalb Asahi sich auf all das einlässt, wird nicht erklärt, man muss sich selbst einen Reim darauf machen.

Die Schwiegermutter kümmert sich beim Einzug um alles; sie weiß, wo die Mikrowelle hingehört, und steht mit niedlichen Pantoffeln parat. So beginnt eine der originellsten und verstörendsten Romanhandlungen der letzten Jahre, und während man anfangs nicht recht den Finger darauf legen kann, was genau an der ganzen Szenerie so absurd gruslig ist, betritt die Natur die Bühne wie ein gewaltiger Akteur, der alle anderen an die Wand spielt. Asahi sieht auf dem Weg zu einem Lädchen ein schwarzes Tier – es ist kein Hund, keine Katze, kein Wildschwein – und läuft ihm unter dem ewigen Geschrei der Zikaden hinterher ins tiefste Schilf, immer weiter: „Insekten, ihre Kadaver, Tiere, Müll, Pflanzen, Exkremente, Zikaden krümmten sich unter meinen Schuhen, zerbrachen, versanken.“ Sie folgt dem Tier so lange, bis sie in ein Loch fällt. Es reicht ihr bis zur Brust, allein kommt sie nicht heraus, doch Rettung kommt rasch – in Gestalt einer Frau mit Sonnenbrille und Sonnenschirm und ohne Angst davor, sich die Hände schmutzig zu machen. Das Tier ist da längst im Dickicht verschwunden, doch es wird wieder auftauchen.

Das Loch ist auch die Geschichte eines gnadenlosen Sommers. Schließlich kommt der September, aber die Zikaden geben keine Ruhe, die brütende Hitze scheint eher zu- als abzunehmen. „War dies der Klimawandel, oder handelte es sich um eine außergewöhnliche Wetterlage?“, wundert sich Asahi. Es ist die einzige Stelle im Roman, an der das Wort Klimawandel fällt, aber expliziter muss es nicht werden. Im Original erschien Das Loch vor zehn Jahren – und nun sieht sich Japan zur Regenzeit einer ungewöhnlichen Hitzewelle ausgesetzt, die Klimaexpert*innen und Gesundheitsbehörden gleichermaßen alarmiert, allein in Tokio sind Stand zweite Juliwoche schon sechs Menschen aufgrund der Hitze gestorben.

Leise Hoffnung leuchtet auf

Hiroko Oyamada zeigt in ihrem Roman den Horror einer Normalität, die ausweglos erscheint, weil die äußeren Umstände weder gute Alternativen noch die Möglichkeit sozialer Organisation bieten. Und den Horror gewaltiger Naturereignisse, die die Grenzen des Vorstellbaren nach ihren eigenen Maßstäben verschieben. Man arrangiert sich mit der Hitze, den schwarzen Tieren, den Löchern, den lärmenden Zikaden wie mit neuen Nachbarn. Leise Hoffnung leuchtet in den Momenten auf, wenn die Außenseiter*innen dieses Soziotops einander begegnen und sich gegenseitig dabei helfen, buchstäblich aus dem Loch zu klettern.

Manche Sujets muten sehr japanisch an: etwa der demografische Wandel und wie die drastisch sinkende Geburtenrate vor allem das Leben auf dem Land verändert; die Dörfer, in denen Kinder so selten sind, dass reihenweise Schulen zusperren – das ist keine Fiktion. Ebenso die restriktiven Geschlechterrollen, die Traditionen, die schweigsamen Väter und die Abendessen kochenden Frauen. Dann ist da noch Muneakis Bruder, von dem Asahi nie jemand erzählt hat: ein Sonderling zwar, aber dieser in Isolation lebende Hikikomori entpuppt sich als wärmer und zugewandter als manch andere Figuren.

Japanisch ist vielleicht auch die knappe Form des Romans, etwas mehr als 120 Seiten, wie auch die Sprache, typisch reduziert und präzise.

Wohl kaum ein Genre wurde in den letzten Jahren feministisch derart von Grund auf neu erfunden und so sehr gequeert wie die Horrorliteratur. Mariana Enriquez, Jenny Hval, Carmen Maria Machado oder die heuer mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämierte Barbi Marković – die Liste jener Autorinnen, denen das zu verdanken ist, ist lang; ihre Erzählungen und Romane sind polyphon, heterogen. Sie scheren sich nicht um Genre-Spielregeln. Hiroko Oyamadas Öko-Horror trifft einen Nerv und ist zugleich sui generis, einzig in seiner Art: so beispiellos wie das keiner Spezies zugehörige schwarze Tier, oder wie die Frau unterm Sonnenschirm, die aus dem Nichts auftaucht und eine Hand reicht.

Das Loch Hiroko Oyamada Nora Bierich (Übers.), Rowohlt 2024, 128 S., 22 €