Jagd aufwärts Hamas-Chef Yahya Sinwar hat für jedes Israel höchste Priorität
Wenige Tage, nachdem sie am 7. Oktober aus ihren Häusern gezerrt worden waren, kauerte eine Gruppe von israelischen Geiseln in einem Tunnel in Gaza, als der Drahtzieher ihrer Entführung aus der unterirdischen Dunkelheit auftauchte.
Sein Haar und sein Bart waren grau und die dunkel umringten Augen unter dicken schwarzen Brauen waren auf sie gerichtet. Es war ein Gesicht, das ihnen aus zahlreichen Sendungen und Zeitungsartikeln bekannt war: das von Yahya Sinwar. Der Chef der Hamas in Gaza war schon der meist gefürchtete Mann in Israel, bevor er den Befehl zum Überfall im Oktober gab, bei dem 1.200 Menschen, davon zwei Drittel Zivilisten, getötet und 250 als Geiseln genommen wurden.
Sinwar sprach in fließendem Hebräisch, das er in mehr als 22 Jahren in einem israelischen Gefängnis perfektioniert hat. Er versicherte ihnen, dass sie in Sicherheit seien und bald gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht würden. Eine der Geiseln, die 85-jährige langjährige Friedensaktivistin Yocheved Lifshitz aus dem Kibbuz Nir Oz, empfand seine Worte der Besorgnis um ihr Wohlergehen als Zeitverschwendung und sagte dem Hamas-Anführer direkt ins Gesicht, was sie von ihm hielt. „Ich fragte ihn, ob er sich nicht schäme, so etwas Leuten anzutun, die sich all diese Jahre über für Frieden eingesetzt haben“, erzählte Lifshitz nach ihrer Freilassung nach 16 Tagen in Gefangenschaft der Zeitung Davar. „Darauf antwortete er nicht. Er war still.“
Etwa zu der gleichen Zeit, am 10. Oktober, wurde von Hamas-Sicherheitskameras ein Video aufgenommen, das einige Monate später vom israelischen Militär gefunden wurde. Es zeigt Sinwar, der seiner Frau und drei Kindern durch einen engen Tunnel folgt und in der Dunkelheit verschwindet.
Das ist das letzte Mal, dass der Mann, der den Gaza-Krieg ausgelöst hat, gesichtet wurde. Durch die vernichtende israelische Reaktion auf den Anschlag wurden laut der Gesundheitsbehörde in Gaza bisher 41.000 Palästinenser, zumeist Zivilisten getötet. Ein großer Teil des Gebiets wurde dem Erdboden gleichgemacht, 90 Prozent der Bevölkerung gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen und 2,3 Millionen Menschen an den Rand der Hungersnot gebracht. Während alledem blieb Sinwar als wichtiges Hauptziel der israelischen Bombardierungen im Großen und Ganzen offenbar unversehrt.
Dabei wurde für die bereits fast ein Jahr andauernde Jagd auf ihn eine Mischung modernster Technologien und brutaler Gewalt eingesetzt. Die Verfolger zeigten sich zu fast allem bereit, um den Hamas-Anführer zu töten und den engsten Kreis um ihn herum zu zerstören, auch eine extrem hohe Zahl an zivilen Opfern in Kauf zu nehmen.
Schin Bet bisher erfolglos
Die Jäger sind eine Taskforce bestehend aus Geheimdienstmitarbeitern, Spezialeinheiten der Israelischen Armee (IDF), Militäringenieuren und Überwachungsexperten unter dem Schirm des Israelischen Sicherheitsdienstes, dem Inlandsgeheimdienst, der besser unter seinen hebräischen Anfangsbuchstaben Schin Bet oder dem Akronym Schabak bekannt ist.
Persönlich und was ihre Institutionen angeht, ist ein Ziel dieses Team die Wiedergutmachung der Sicherheitsmängel, die den Anschlag vom 7. Oktober ermöglichten. Doch trotz ihrer hohen Motivation ist es der Taskforce bisher nicht gelungen, ihre Zielperson ausfindig zu machen. „Wenn Sie mir zu Beginn des Krieges gesagt hätten, dass er elf Monate später noch immer am Leben sein würde, hätte mich das sehr überrascht“, gibt Michael Milshtein zu, ein ehemaliger Leiter der Abteilung für Palästinenser-Angelegenheiten beim israelischen Militärgeheimdienst Aman. „Allerdings muss man bedenken, dass Sinwar diesen Angriff zehn Jahre lang vorbereitet hat und der Geheimdienst der IDF sehr überrascht von der Größe und Länge der Tunnel unter Gaza war und wie ausgeklügelt sie waren.“
Nach Schätzungen der israelischen Armee gibt es unter Gaza Tunnel von insgesamt 500 Kilometer Länge, quasi eine ganze Untergrundstadt. Eine zweite wichtige Herausforderung ist zumindest laut einiger Leute im Verteidigungsestablishment, dass Sinwar sich wahrscheinlich mit menschlichen Schutzschilden umgeben hat. „Wegen der Geiseln handeln wir sehr vorsichtig“, erklärte Ram Ben-Barak, ein früherer Vize-Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad: „Ich bin fest überzeugt, dass wir ihn ohne solche Beschränkungen leichter gefunden hätten.“
Ob Sinwar einen Ring menschlicher Schutzschilder um sich hat oder nicht: Die mögliche Anwesenheit von Geiseln hat die IDF nicht davon abgehalten, in den vergangenen Wochen mit sehr zerstörerischen 900-kg-Bomben auf vermutete Hamas-Verstecke zu zielen. Von ihren beiden wichtigsten Kriegszielen stellt die Netanjahu-Regierung offenbar die Vernichtung der Hamas über die Rettung der Geiseln.
Gezielte Tötungen
Dabei fehlt es Sinwars Jägern nicht an Expertise. Seit der Gründung des Staates Israel waren gezielte Tötungen eine Kerntaktik seines Militärs. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Israel mehr Menschen gezielt getötet als jedes andere Land in der westlichen Welt.
Die Spezialeinheit Yahalom innerhalb des Kampftechnik-Korps hat mehr Erfahrung mit Tunnel-Kampfeinsätzen als jedes ihrer Gegenstücke in westlichen Armeen und Zugang zu einem hochmodernen, in den USA hergestellten Bodenradar. Die Geheimsignal-Aufklärungseinheit 8200 ist weltweit führend in der elektronischen Kriegsführung und hört seit Jahrzehnten die Kommunikation der Hamas ab.
Nach dem israelischen Rückzug aus Gaza 2005 verlor Schin Bet viele seiner Informationsquellen in dem Gebiet. Seit Beginn der Bodeninvasion im vergangenen Oktober arbeitet Israel daran, sie wieder aufzubauen, indem es unter den verzweifelten Massen Palästinenser rekrutierte, die vor dem Angriff flohen.
Nach Schätzungen der israelischen Armee gibt es unter Gaza Tunnel von insgesamt 500 Kilometer Länge
Foto: Amir Levy/Getty Images
Trotz der Fähigkeiten dieser beachtlichen Taskforce ist es ihr nur einmal gelungen, Sinwar fast zu erwischen. Das war Ende Januar in einem Bunker unter seiner Heimatstadt Khan Younis. Der flüchtige Warlord hatte Kleidung und mehr als eine Million israelischer Schekel (über 237.000 Euro) in Banknoten zurückgelassen. Manche deuteten das als Zeichen eines Aufbruchs in Panik, obwohl letztlich geschätzt wurde, dass der Hamas-Chef schon einige Tage weg war, als die israelische Armee den Bunker stürmte.
Sinwars Verfolger gehen davon aus, dass er seit Langem keine elektronischen Kommunikationswege benutzt, weil er die Fähigkeiten und Technologien seiner Verfolger kennt. Sinwar lernte während seiner Gefängniszeit in Israel nicht nur Hebräisch, sondern auch viel über die Gewohnheiten und Kultur seines Feindes.
„Er versteht wirklich sehr genau die Urinstinkte und die tiefsten Gefühle der israelischen Gesellschaft“, sagt Milshtein, der mittlerweile am Moshe Dayan Center an der Universität Tel Aviv arbeitet. „Ziemlich sicher basiert jeder Schritt, den er tut, auf seinem Verständnis von Israel.“
Kommunikation mittels Kurieren
Sinwar kommuniziert weiter mit der Außenwelt, wenn auch offensichtlich unter Schwierigkeiten. Die langen Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Kairo und Doha mussten häufig pausieren, während Nachrichten an und von dem unter der Erde versteckten Kommandeur geschickt wurden. Eine gut denkbare Möglichkeit ist: Um das Kommando zu behalten, setzt Sinwar Kuriere ein, die aus einem kleinen und schrumpfenden Kreis von Helfern stammen, denen er vertraut, angefangen mit seinem Bruder Mohammed, einem hochrangigen Militärkommandeur in Gaza.
Das auf Sinwar angesetzte Team hofft, dass ihm der notwendige Kontakt zu Kurieren, um Befehle zu geben und die Geiselverhandlungen zu kontrollieren, letztlich zum Verhängnis wird, genau wie am Ende ein Kurier die US-amerikanischen Verfolger auf Al-Quaida-Chef Osama bin Ladens Versteck in Abbottabad in Pakistan brachte.
Es wird davon ausgegangen, dass es auch ein Kurier war, der die israelischen Jäger zu ihrem bisher größten Schlag des Krieges führte. Am 13. Juli um 10.30 Uhr verließ der langjährige Hamas-Kommandeur Mohammed Deif, der seit 1995 ganz oben auf Israels Liste der Gesuchten stand, ein Versteck in der Nähe eines Flüchtlingslagers in al-Mawasi, um gemeinsam mit seinem engen Vertrauten Leutnant Rafa’a Salameh Luft zu schnappen. Einen Moment später warfen israelische Kampfflieger Bomben ab, die die beiden Männer töteten, neben vielen anderen Palästinensern – zumindest nach Angaben der israelischen Armee. Die Hamas besteht darauf, dass Deif noch am Leben ist, wobei er seither nicht mehr gesehen wurde.
Viele im israelischen Sicherheitsapparat bedauerten die ihrer Meinung nach verpasste historische Chance im September 2003, als sie Flugzeuge bereithielten, um ein Haus zu bombardieren, in dem die gesamte Hamas-Führung tagte. Nach heftigen Auseinandersetzungen in der militärischen Befehlskette schoss die Luftwaffe, um zivile Opfer zu vermeiden, eine Präzisionsrakete in einen angenommenen Meeting-Raum, anstatt das gesamte Gebäude mit einem Bombenhagel zu zerstören. Es war der falsche Raum und die Hamas-Anführer überlebten.
Fehler von Mohammed Deif
Mitte Juli 2024 war die Wahrscheinlichkeit, eine große Zahl Zivilisten zu töten, offenbar keine Hürde mehr. Bei dem Angriff auf Deif setzte die Luftwaffe 900-Kilo-Bomben ein, also genau die Waffen, deren Lieferung die Regierung von US-Präsident Joe Biden im Mai wegen ihrer wahllosen Zerstörungskraft eingestellt hatte. Laut Berichten warf Israel am 13. Juli acht davon mit der Folge ab, dass 90 Palästinenser getötet und fast 300 verletzt wurden.
„Beim Angriff auf Mohammed Deif war sein Aufenthaltsort wohl durch eine menschliche Informationsquelle bekannt: einer der Boten, die von einem Tunnel oder Bunker zum andere gehen, um Nachrichten zwischen Kommandeuren hin und her zu bringen“, erklärte Milshtein. „Vielleicht ergibt sich irgendwann die Gelegenheit, einem solchen Boten zu Sinwar zu folgen, oder einer von ihnen ist ein Agent des israelischen Geheimdienstes.“
Nach dem israelischen Angriff auf das Dorf Al-Mawasi
Foto: Saeed Jaras/Middle East Images/AFP/Getty Images
Laut Yossi Melman, einem der Autoren von Spies Against Armageddon sowie weiteren Büchern über israelische Geheimdienstarbeit, hat Deif vermutlich einen Fehler begangen, den Sinwar wahrscheinlich nicht wiederholen wird. „Deif war vielleicht arroganter oder sagte sich: Sie haben schon so oft versucht, mich zu töten. Ich habe ein Auge und einen Arm verloren, aber trotzdem überlebt. Vielleicht ist Gott mit mit“, vermutet Melman. „Der Geheimdienst und die Armee warteten genau auf diese Gelegenheit. Bei allen gezielten Tötungen kommt es auf den kleinen Fehler an, den die andere Seite macht. Aber Sinwar ist vorsichtiger. Er ist kein Militärkommandant, der sich zeigen muss, um bei seinen Leuten zu sein.“
Kürzlich warf die Luftwaffe erneut 900-Kilogramm-Bomben auf das Dorf Al-Mawasi im Süden des Gazastreifens ab, das Israel als „humanitäre Zone“ deklariert hatte. Mindestens 19 Menschen wurden getötet und 60 verletzt. Die IDF bezeichnete den Angriff als „Präzisionsschläge“ auf Hamas-Ziele, ohne aber das Ziel genauer zu nennen.
Deal mit Hamas-Chef Yahya Sinwar?
Es ist möglich, dass es zu einem Deal kommt, bei dem Sinwar ins Exil geht. Manche meinen, er befinde sich bereits außerhalb Gazas und verstecke sich in einem Tunnel auf der ägyptischen Seite der Grenze des Gouvernement Rafah. Das widerspricht allerdings der gängigen Meinung über den ideologischen Eifer eines Mannes, der in den Reihen der Hamas als Hinrichter mutmaßlicher Informanten aufstieg. „Persönlich halte ich das für nicht sehr wahrscheinlich“, sagte Milshtein, dessen Job beim militärischen Nachrichtendienst Aman es war, Sinwar und andere Hamas-Anführer zu analysieren. „Es liegt in seiner DNA, in Gaza zu bleiben und bis zum Tod zu kämpfen. Ich glaube, er zieht es vor, in seinem Bunker zu sterben.“
Der frühere Mossad-Vize Ben-Barak sieht das genauso: „Ich glaube nicht, dass er nach Ägypten geht. In dem Moment, in dem die Leute wüssten, dass er nicht in Gaza ist, würde die ganze Hamas-Operation zusammenbrechen – ihre Moral und so weiter. Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass er das tun würde. Er ist kein Feigling.“
Sinwars Tod oder Gefangennahme würde von Ministerpräsident Benjamin Netanjahus Regierung zweifellos als großer militärischer Erfolg bejubelt werden. Schließlich hat sie die Zerstörung der „militärischen und Regierungsfähigkeit der Hamas“ zu einem vorrangigen Kriegsziel erklärt. Ob die Ergreifung Sinwars den Krieg beenden würde, ist eine ganz andere Frage. „Wenn wir ihn kriegen, wird das die Lage erst einmal deutlich verbessern, vielleicht für ein paar Wochen“, meint Ben-Barak. „Aber danach wird jemand anderes kommen. Es ist ein ideologischer Krieg, kein Krieg um Sinwar.“
Milshtein sieht das genauso: „Nach fast 50 Jahren gezielter Tötungen wissen wir, dass das Teil des Spiels ist. Manchmal ist es notwendig, einen sehr prominenten Anführer zu ermorden. Aber wenn man anfängt zu glauben, dass das eine entscheidende Wendung ist und eine ideologische Organisation zusammenbricht, weil man einen ihrer Anführer getötet hat, dann ist das ein großer Fehler. Ich bin ziemlich sicher, dass jemand Mohammed Deif ersetzen wird oder bereits ersetzt hat. Und wenn Sinwar getötet wird, wird auch jemand Neues kommen … Man darf sich keine Illusionen machen. Es ist nicht das Ende des Krieges.“