Ingeborg-Bachmann-Preis 2024: Heiter vom Monströsen erzählen

Die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, an deren Ende die Vergabe des Ingeborg-Bachmann-Preises steht, verlaufen stets zweigleisig. Zum einen ist da sehr viel Literaturbetriebsfolklore: Wer war schon im Wörthersee schwimmen und mit wem? Wer hat eine lustige Plastikente aufgeblasen im Strandbad Maria Loretto? Wer sichert sich im engen Fernsehstudio die besten Plätze? Hat da etwa tatsächlich jemand am Vorabend noch seine Jacke quer über gleich drei Stühle ausgelegt? Sagt irgendeiner der Kärntner Lokalpolitiker am Abend des Bürgermeisterempfangs irgendetwas freiwillig oder unfreiwillig Komisches? Und so weiter.

Zum anderen sind da die 14 Autorinnen und Autoren, ihre Texte und die sieben Jurymitglieder, die über die vier Preise zu befinden haben. Im besten Fall spiegeln die Wettbewerbstexte in all ihrer Unterschiedlichkeit den aktuellen Stand deutschsprachiger Gegenwartsliteratur mit all ihren relevanten Themen, Moden, Diskursen. Ebenfalls im besten Fall sind die Jurydiskussionen scharf, unterhaltsam, schlagfertig und finden zugleich einen adäquaten literaturkritischen Zugang. Drei Tage lang, von Donnerstag bis Samstag, wurde gelesen; am Sonntag vergab die Jury dann traditionellerweise die Auszeichnungen, in diesem Jahr bereits zum 48. Mal.

Den Ingeborg-Bachmann-Preis 2024, dotiert mit 25.000 Euro, gewann der 1981 in Sarajevo geborene Tijan Sila, der unlängst von Maxim Biller für einige seiner Bemerkungen über den Gazakrieg scharf kritisiert wurde, dessen ungeachtet jedoch ein gestandener und bemerkenswerter Schriftsteller ist. Sila, der zumindest als Mitfavorit in den Wettbewerb gegangen war, las gleich am ersten Tag auf Einladung des Jurymitglieds Philipp Tingler und erntete einhellige Begeisterung für seinen Text Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien, die traumatischen Erfahrungen seines jugendlichen Protagonisten und das Ankommen als Kriegsflüchtling in Deutschland prägen Silas Bücher, zuletzt seinen im vergangenen Jahr erschienenen autobiografischen Bericht Radio Sarajevo. Silas Gewinnerbeitrag schließt thematisch und chronologisch an dieses formidable Buch an. Seine literarische Waffe ist die vorgebliche Nüchternheit, streckenweise sogar Heiterkeit, mit der Monströses, Ungeheuerliches und Schreckliches beschrieben wird.

Sein Schreiben, so formulierte Sila es einmal, habe das Ziel, die Erfahrungen seiner Generation dem Vergessen zu entreißen. Silas Texte zeigen, wie die Verrohung und die Gewalt der Kriegserlebnisse sich unweigerlich in die Menschen hineingefressen haben – und welche Folgen das hat. Tijan Silas Eltern, so hat er es in Radio Sarajevo angerissen, scheitern als Flüchtlinge in Deutschland auf ganzer Linie. In Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde wird dieses Scheitern in all seinen bedrückenden Umständen gezeigt. Die Mutter hat noch in Sarajevo ihre Promotion im Fach Germanistik abgeschlossen; in Deutschland gilt der kommunistische Doktortitel nichts. Die Kenntnisse des Vaters, eines Bibliothekswissenschaftlers, werden ebenfalls nicht mehr gebraucht. Am 12. August 2007 wurde die Mutter also verrückt. Das behauptet der Text. Jedenfalls bemerkt der Ich-Erzähler Tijan bei einem seiner Besuche bei den Eltern, dass etwas nicht stimmt. 

Die Mutter berichtet, sie habe Tijans Patentante auf der Straße getroffen. Die ist allerdings bereits 1994 bei einem Bombenangriff in Sarajevo ums Leben gekommen. Die Mutter unterstellt dem Sohn, sich an Verschwörungen gegen sie zu beteiligen. Panik steigt in Tijan auf. Der Vater schweigt zu alldem. In Tijans altem Kinderzimmer hat er Baumarktgestelle an die Wand geschraubt: „Darauf stapelten sich alte Radios, Schallplattenspieler, Lautsprecher und Stereoanlagen, auf dem Teppich befand sich ein Schlangennest aus Spiralkabeln.“ Der Vater ist zum Messie geworden, der sich der Mutter wegen nur noch selten traut, das Zimmer zu verlassen. „Heute“, so rekapituliert Tijan, „weiß ich, dass meine Eltern gemeinsam verrückt wurden. Sie gingen Hand in Hand zum Abgrund, doch während meine Mutter, unerschrocken, wie sie nun mal war, sich mit Anlauf hineinstürzte, kroch mein Vater auf allen Vieren zum Schlund.“ Dieser Blick in den historisch determinierten Abgrund eines Kriegstraumas gewann verdientermaßen den Ingeborg-Bachmann-Preis.