Im Gespräch | Digitale Diagnosen: Soziologin Laura Wiesböck hoch den Trend jener „Therapiesprache“
Wir oversharen, gaslighten und lovebomben – oder machen andere darauf aufmerksam, dass sie es tun. Wir bezeichnen uns als neurodivers, grenzen uns ab und heilen unser inneres Kind. Heutzutage hört man oft von einem „inflationären“ Gebrauch therapeutischer Begriffe, der unseren zwischenmenschlichen Beziehungen eher schadet als nützt. Doch woher kommt das Bedürfnis, unsere Identität und Beziehungen mithilfe psychologischer Begriffe zu erklären? Die Soziologin Laura Wiesböck untersucht in ihrem neuen Buch das Gegenwartsphänomen der „Therapie-Sprache“.
der Freitag: Frau Wiesböck, angesichts der Zunahme an therapeutischen Begriffen in unserem Alltag könnte man meinen, wir sind psychologisch aufgeklärter denn je. Wie sehen Sie das?
Laura Wiesböck: Da stellt sich bei mir zuerst die Frage: Wer ist „wir“? Die Popularisierung von psychologischem Fachjargon oder einer „psychotherapeutischen Kultur“, wie Eva Illouz es nennt, findet in spezifischen Milieus in westlichen Kontexten statt. Im Buch spreche ich daher auch von einem Wohlstandsphänomen, das im Zusammenhang mit der Tendenz von westlichen Gesellschaften steht, sich immer stärker dem Individuum zuzuwenden. Ich finde es daher wichtig, zu fragen: Welche Ideen und Ansprüche an das Menschsein stecken eigentlich hinter diesen Begrifflichkeiten? Und welche Vorstellungen von Gesellschaft und Zusammenleben?
Woher kommt denn das Bedürfnis, uns mit psychologischen Begriffen selbst zu diagnostizieren?
Menschen sind gesellschaftlich wertvoll, wenn sie leistungsfähig, effizient und eigenverantwortlich sind. Das stellt eine große Belastung für viele dar, die diese Anforderungen nicht immer erfüllen können. Klare Einordnungen von unangenehmen Gefühlszuständen können eine große Entlastung darstellen. Sie geben Orientierung und Halt – und sie sind verbunden mit einem Recht auf Hilfe und Unterstützung. Selbstdiagnosen sind ein sehr gutes Beispiel dafür, dass diese Entwicklungen aus dem US-amerikanischen Kontext stammen, in dem es eine unzureichende medizinische und therapeutische Versorgung gibt. Wenn es einen Mangel an professionellen Angeboten gibt, haben die Menschen oft keine andere Wahl, als sich selbst auf die Suche nach Erklärungen für ihre Leidenszustände zu machen.
Diagnosen wie ADHS, Autismus oder Bipolarität stellen in der Regel Formen der Abweichung von einer Norm fest. Aber was ist denn überhaupt die Norm? Und welche Ansprüche an das Menschsein stehen dahinter?
Genau das ist die wichtige Frage, die wir aus soziologischer Perspektive stellen sollten. Ideen über Normalität und Abnormalität werden gesellschaftlich laufend neu verhandelt und verändern sich im Laufe der Zeit. Wenn „psychisch gesund“ zu sein bedeutet, leistungsfähig, effizient und genussfähig zu sein, dann steckt da eine bestimmte Idee vom Menschsein dahinter, die nicht unbedingt Verletzlichkeit als Grundprinzip menschlichen Seins anerkennt. Und deswegen ist es sehr wichtig, sich die Art und Weise, wie über Diagnosen geredet wird, genauer anzusehen, weil damit eben Ideen von Normalität und Abnormalität verhandelt werden.
Über Diagnosen werden Ideen von Normalität und Abnormalität verhandelt.
Ein bekannt gewordener Begriff ist „Trigger“, verbunden mit Warnungen vor sensiblen Inhalten. Was ist daran problematisch?
Trigger-Warnungen waren ursprünglich ein Therapieansatz, um sich als traumatisierte Person bewusst einer Konfrontation mit bestimmten Inhalten auszusetzen – mit dem Ziel, dem Trauma die Macht über sich zu nehmen. Prinzipiell können Trigger-Warnungen auch auf Social Media sinnvoll sein, etwa wenn Inhalte direkt hintereinander gezeigt werden, die aus völlig unterschiedlichen Kontexten kommen. Im Alltag bezieht sich die Verwendung aber nicht immer auf das Ermöglichen einer vorbereiteten Auseinandersetzung mit potenziell retraumatisierenden Inhalten, sondern auf das Vermeiden unangenehmer Gefühle wie Wut oder Ekel. Solche Gefühle können aber in sozialen Kontexten nicht immer vermieden werden.
Bestimmten Zuschreibungen haftet oft eine gewisse Endgültigkeit an: Gespräche oder ganze Beziehungen werden dort beendet, wo etwas als „toxisch“ oder „übergriffig“ kategorisiert wird. Bedeutet das, wir haben verlernt, Konflikte auszutragen?
Das kann ich nicht beurteilen. Aber es gibt Studien, die zeigen, dass es sehr binäre Vorstellungen über die „Gesundheit“ von zwischenmenschlichen Beziehungen gibt: Sie sind entweder „gesund“ oder eben „toxisch“. Und diese Binarität ist eine enorme Verkürzung. Soziale Beziehungen sind immer geprägt von Ambivalenzen, Widersprüchen und Konflikten. Das betrifft auch das eigene Dasein – auch die eigene Identität ist voller Widersprüche. Und man muss trotzdem mit sich und mit anderen leben. Einige Studien, die ich zitiere, zeigen, dass die nahegelegte Konsequenz von einer negativen Klassifizierung der Ausschluss ist. Man liest oft so etwas wie „Cut negative people out of your life“. Das ist insofern kritisch zu betrachten, weil sich darin eine gewisse Konsumhaltung gegenüber Menschen und Beziehungen ausdrückt.
Soziale Beziehungen sind immer geprägt von Ambivalenzen, Widersprüchen und Konflikten.
Liegt darin auch eine Tendenz zur Idealisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen? Nach dem Motto: Wenn wir nur alles, was irgendwie „toxisch“ ist, aus dem Weg räumen, werden wir zu perfekten Menschen, die perfekte Beziehungen führen?
Ja, es liegt eine gewisse Reinheitsidee dahinter, die wir auf unterschiedlichen Ebenen beobachten können. Auch in anderen Bereichen zeigt sich ein Bedürfnis nach „Detoxing“. Zum Beispiel gibt es mittlerweile eine regelrechte Glorifizierung von Putzen und Ordnung schaffen, die sich im „clean“-Trend ausdrückt: „clean girl“, „clean eating“, „clean skincare“ usw. Dahinter steht das Ideal eines reinen, unverbrauchten, vor allem weiblichen Körpers. Soziologisch betrachtet steigt das Bedürfnis nach „Reinheit“, wenn gesellschaftliche Umstände komplexer werden.
Unter dem Stichwort „Sad Girl Culture“ thematisieren sie die Tendenz junger und meist weißer Frauen zur Romantisierung ihres Leids und ihrer Depressionen über Social Media. Was hat es damit auf sich?
Das Phänomen der Romantisierung und Fetischisierung des „Beautiful Damaged Girl“ ist nicht unbedingt neu. Bilder von sehr dünnen, weißen, attraktiven, zerbrechlichen Frauen, die leiden, gibt es schon lange. Aus feministischer Perspektive gibt es unterschiedliche Betrachtungsweisen darauf. Manche sagen, in der Inszenierung von Depression drückt sich eine Verweigerungshaltung gegenüber den Pflichten aus, die Frauen im Patriarchat auferlegt werden – nämlich fürsorglich zu sein, Care-Arbeit zu leisten, serviceorientiert aufzutreten. Man kann aber auch sagen, dass sich in der Inszenierung und Romantisierung des eigenen Leids Privilegien widerspiegeln. Frauen of Color wird in der Regel weniger Verletzlichkeit zugestanden.
Es gibt auch spezifisch männliche Umgangsweisen mit psychischen Problemen. Sie schreiben zum Beispiel über die Tendenz, psychische Krankheiten als Schutzschild gegen Kritik zu verwenden.
Ja, psychiatrische Diagnosen können als Entlastungsstrategie dienen. Das lässt sich in unterschiedlichen Kontexten beobachten, zum Beispiel bei Vorwürfen der Gewalt oder sexualisierter Gewalt. Hier zeigt sich vermehrt ein Rückgriff auf psychiatrische Diagnosen als eine Art Entlastung, Rechtfertigung oder Entschuldigung. Und da stellen sich natürlich viele Fragen: Wenn Depressionen dafür verantwortlich sein sollen, dass der Partnerin Gewalt zugefügt wird, warum machen das dann nicht auch Frauen in erhöhtem Maße? Mit dem Rückgriff auf die individuelle Pathologie werden strukturelle Normen verschleiert. Gewaltbereitschaft wird aber kulturell und politisch erzeugt.
Psychiatrische Diagnosen können als Entlastungsstrategie dienen.
Sie schreiben auch über den Trend, psychiatrische Begriffe in der Instagram-Bio oder auf Datingprofilen zu erwähnen. Kann die Identifizierung mit neurodiversen Diagnosen, wie ADHS oder Autismus, auch ein Gefühl der Zugehörigkeit verschaffen?
Social Media sind gerade für Jugendliche ein wichtiger Ort der Identitätsbildung. Einige Studien, die ich zitiere, zeigen, dass es diesen Zugehörigkeitseffekt durch die Identifizierung mit einer Krankheit gibt. Dass man also Teil einer Gruppe wird, einer Community, wenn man so möchte. Das kann viele Vorteile haben. Ich sehe darin aber auch die Gefahr einer Überidentifikation mit einer bestimmten Diagnose, die dazu führen kann, in Leidenszuständen zu verharren, weil sie als Teil der Persönlichkeit verstanden werden.
Können Sie abschließend ein Urteil darüber fällen, ob der alltägliche Gebrauch von Therapie-Begriffen uns eher nützt oder schadet?
Ich würde sagen: Beides und noch viel mehr. Mein Plädoyer im Buch ist, die Mehrdeutigkeit von bestimmten Phänomenen zuzulassen. Das ist nicht immer einfach – diese Ambivalenz auszuhalten. Aber als Wissenschaftlerin ist mir das sehr wichtig. Ich unterrichte zum Beispiel auch Soziologie der Liebe. Auch in diesem Bereich finden viele Prozesse gleichzeitig statt. Es gibt eine Abkehr von traditionellen Normen wie der Monogamie – und gleichzeitig eine Retraditionalisierung und Zuwendung zu konservativen Beziehungsmodellen. Das sind konträre Entwicklungen, die aber gleichzeitig stattfinden, und dasselbe gilt für das Phänomen der „Therapie-Sprache“. Die Antwort auf die Frage, welche Auswirkungen etwas hat, ist also immer auch abhängig von der Frage: Für wen?
Laura Wiesböck, geboren 1987 in Wien, ist promovierte Soziologin. Sie leitet die Gruppe „Digitalisierung und soziale Transformation“ am Institut für Höhere Studien Wien. Ihr neues Buch Digitale Diagnosen (176 S., 22 Euro) ist kürzlich bei Hanser erschienen