Illustratorin aus Moskau: „Ich habe jeden Tag Heimweh“

DIE ZEIT: Frau Desnitskaya, man kennt Sie von Büchern wie In einem alten Haus in Moskau oder Märkte in aller Welt. In Ihrem neuen Bilderbuch schildern Sie, wie der Angriff Russlands auf die Ukraine Ihr Leben verändert hat. Erzählen Sie!

Anna Desnitskaya: Am 17. Februar 2022 war ich mit meinen drei Kindern nach Zypern geflogen, die Reise war ein Geburtstagsgeschenk für meinen Sohn. Als dann eine Woche später Russland die Ukraine angriff, wusste ich, dass unsere Familie nicht nach Moskau zurückkehren würde. Ich möchte nicht in einem Land leben und meine Kinder großziehen, das seinen Nachbarn überfällt und in dem man nicht frei seine Meinung äußern darf.

ZEIT: Haben Sie diese Entscheidung spontan an diesem Morgen gefällt?

Desnitskaya: Nein, mein Mann und ich hatten seit dem Januar große Angst, dass es zum Krieg kommen könnte. Und wir waren uns einig, dass wir Russland dann verlassen würden. Weil meine Mutter Jüdin ist, entschieden wir uns, nach Israel zu gehen.

ZEIT: Wie alt waren Ihre Kinder damals, und was sagten sie zu Ihrer Entscheidung?

Desnitskaya: Mein Sohn war zehn, meine eine Tochter fast sieben und die Kleinste ein Jahr alt. Natürlich wollten sie nicht von zu Hause weg. Sie verstanden unsere Entscheidung irgendwann, und auch viele ihrer Freunde verließen das Land. Trotzdem schreibt meine ältere Tochter in ihrem Instagram-Account bis heute: Ich bin ein russisches Mädchen, meine Heimat ist Russland. Wenn sie an ihrem Geburtstag die Kerzen ausbläst, wünscht sie sich, dass wir bald zurück nach Moskau können.

ZEIT: Was geschah mit Ihrer Wohnung und all Ihren Sachen?

Desnitskaya: Mein Mann war nicht mit nach Zypern gereist, er packte unser Leben zusammen. Es war absolut verrückt: Wir chatteten, und er hielt Stiefel, Pullover, Spielzeug in die Kamera: Soll das mit? Bleibt das hier? Er kam mit zwei Koffern, später besuchten uns Freunde und Verwandte, die mehr Sachen mitbrachten. Wichtig sind Dinge, die man nicht ersetzen kann: Fotos, die ersten Locken unserer Kinder. Inzwischen ist unser Besitz wieder auf zehn Koffer angewachsen.

ZEIT: Ihr Mann traf Sie und die Kinder in Israel. Wie ging es Ihnen dort?

Desnitskaya: Es war sehr schwer. Israel ist schön, und die Menschen waren nett, aber alles war so fremd. Wir wissen, dass wir sehr privilegiert sind: Wir haben keine alten Verwandten in Moskau, die unsere Hilfe brauchen. Wir können online arbeiten. Wir hatten etwas Geld. Wir konnten einfach gehen. Nur wollten wir nie emigrieren. Wir lieben unser Land, unsere Stadt. In Moskau hatten wir 2020 ein Apartment gekauft, aufwendig renoviert und zu unserer Traumwohnung gemacht. In Israel saßen wir in einer kleinen Unterkunft. Wir hätten genauso gut auf dem Mars sein können.

ZEIT: Was half Ihnen, anzukommen?

Desnitskaya: Ein Besuch bei Ikea. Wir wollten eigentlich nur ein paar Gläser kaufen, doch dann entdeckte ich einen großen Pappstern, den wir auch in Moskau hatten. Sobald ich den in der neuen Wohnung aufgehängt hatte, fühlten wir uns auf seltsame Weise ein wenig heimischer. Nach einem Jahr zogen wir trotzdem weiter. Wir leben nun in Montenegro – einem Land, das wir gut kennen. Viele unserer Freunde sind hier, dann öffnete noch eine neue russische Schule. Und der Stern ist mit uns umgezogen.

ZEIT: Was wurde aus Ihrer Wohnung in Moskau?

Desnitskaya: Es wäre vermutlich klug, sie zu verkaufen, aber das bringe ich noch nicht übers Herz. Es ist mein Zuhause. Im Moment lebt meine Schwester mit ihrer Familie dort.

ZEIT: Waren Sie zwischendurch zu Besuch?

Desnitskaya: Nein, das ist mir zu unsicher. Ich habe Dinge gepostet, für die man mich in Russland ins Gefängnis stecken könnte. Und ich weiß auch nicht, ob ich es noch mal schaffen würde, zu gehen.

ZEIT: Was bedeutet Heimat für sie?

Desnitskaya: In Moskau kannte ich alles und jeden – und umgekehrt. Das fehlt mir sehr. Manchmal begegnet mir die Heimat auch in alltäglichen Dingen. In Moskau gibt es viele Pappeln, die im Frühjahr blühen und duften. Ich hatte mehr als ein Jahr keine Pappel gesehen, und dann waren wir in Bosnien, plötzlich war da dieser vertraute Duft, und ich dachte: Das riecht ja wie zu Hause! Ich habe jeden Tag Heimweh.

ZEIT: Wie war es früher in Russland, Kinderbücher zu machen? Haben Sie Zensur erlebt?

Desnitskaya: Nein, nie. Kinderbücher fliegen ein wenig unterm Radar. Solange man nicht über LGBTQ-Themen schreibt, ist man ziemlich frei. Zu meiner Überraschung ist sogar das neue Bilderbuch über unsere Emigration in Russland erschienen. Der Anwalt des Verlags hat es geprüft und als unbedenklich eingestuft. Allerdings fehlt meine persönliche Geschichte, die ich hinten im deutschen Buch erzähle. In der russischen Version ist es einfach ein Bilderbuch über eine Familie, die ihre Heimat verlässt.

ZEIT: Haben Sie vor, in Ihrer Arbeit politischer zu werden?

Desnitskaya: Nein, ich wollte dieses Bilderbuch machen, aber gerade arbeite ich zum Beispiel an einem Sachbuch über Brot.

ZEIT: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, welcher wäre das?

Desnitskaya: Dass der Krieg in der Ukraine aufhört.

ZEIT: Und Sie wieder nach Hause zurückkönnten?

Desnitskaya: Das wäre schon ein zweiter Wunsch. Wenn ich nur einen habe, wünsche ich mir Frieden.

Das Bilderbuch „Ein Stern in der Fremde“, ab 5 Jahren, ist soeben im Gerstenberg Verlag erschienen