Herbert Brücker: „Wir verspielen unseren guten Ruf“

ZEIT ONLINE: Herr Brücker, die Union fordert, keine syrischen
und afghanischen Flüchtlinge mehr aufzunehmen
und Zuwanderung generell
einzuschränken. Was halten Sie davon?

Herbert Brücker: Der Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan
und Syrien widerspricht der geltenden Rechtsordnung. Nach der Genfer
Flüchtlingskonvention haben Menschen einen Anspruch auf Schutz, wenn sie von
Verfolgung betroffen sind. Zudem dürfen
Menschen nicht in Länder abgeschoben werden, wenn ihnen Gefahr für Freiheit und
Leben droht. Und bei beiden Grundsätzen gilt: Wir müssen jeden Fall individuell
prüfen.

ZEIT ONLINE: Das Oberverwaltungsgericht Münster hat
entschieden, dass unter Umständen in manche Regionen Syriens und Afghanistans
abgeschoben werden könnte.

Brücker: Das stimmt. Das Urteil gilt allerdings nur für den
Fall eines straffällig gewordenen Geflüchteten. Solche Menschen können
abgeschoben werden, wenn ihnen nicht unmittelbar Gefahr für Leib und Leben droht.
Aber: Afghanistan und Syrien gehören zu den Staaten, in denen die gesamte
Bevölkerung durch politischen Terror bedroht ist
und die persönlichen
Freiheitsrechte eingeschränkt sind. In Syrien sind seit Ausbruch des
Bürgerkriegs etwa eine halbe Million Menschen durch Krieg, weitere 40.000 bis 60.000
Menschen durch Folter und Exekutionen in Gefängnissen ums Leben gekommen. In
Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme der Taliban die Menschenrechtslage
dramatisch verschlechtert, auch wenn die Kriegshandlungen abgenommen haben. Alle
unabhängigen Einrichtungen teilen die Einschätzung, und auch das Auswärtige Amt
folgt ihr. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass Afghanistan und Syrien
sichere Drittstaaten sind.

ZEIT ONLINE: Der Täter von Solingen hätte ohnehin nach
Bulgarien zurückgewiesen werden sollen, da er dort das erste Mal Boden der EU
betrat – so fordert es die sogenannte Dublin-Verordnung. Geschehen ist das
nicht. Warum?

Brücker: Das war Behördenversagen. Man hätte ihn bei
Einhaltung der Dublin-Regelungen in den für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständigen Staat, Bulgarien, abschieben können. Aber an der Person hätte es
trotzdem nichts geändert. Das eigentliche Problem ist der politische Islamismus
des Täters. Dies betrifft nur eine sehr kleine Minderheit der Schutzbedürftigen,
aber das macht es nicht weniger gefährlich. Dem müssen wir mit Mitteln der
Geheimdienste, Überwachung und Prävention begegnen, damit es nicht zu solchen
Terroranschlägen kommt.

ZEIT ONLINE: Von den von Deutschland angeforderten
Rückführungen in andere EU-Staaten wird jährlich nur ein Bruchteil
durchgeführt. Das deutet auf ein strukturelles Problem hin.

Brücker: Das Dublin-System ist weitgehend gescheitert. Das Hauptproblem
ist, dass die Länder an den Außengrenzen der Europäischen Union kein Interesse haben,
Geflüchtete aufzunehmen. Theoretisch müssten Griechenland und Italien 80 bis 90
der Belastungen der Fluchtmigration in die EU tragen. Das wäre nicht fair, und
beide Länder haben daran kein Interesse. Deshalb wird das System systematisch
unterlaufen: Die Geflüchteten werden dort nicht registriert, die humanitären
und die rechtlichen Standards unter das durch das EU-Recht vorgeschriebene
Niveau gesenkt. Am Ende gehen die Geflüchteten in andere Länder wie
Deutschland, Österreich oder die skandinavischen Staaten. Und die Rückführung
ist dann schwer, häufig rechtlich unmöglich. Ein Rechtssystem, das von den
wichtigsten Akteuren unterlaufen wird, kann nicht funktionieren.

ZEIT ONLINE: Sind die hier lebenden Geflüchteten schutzbedürftig?

Brücker: Die überwiegende Mehrheit
der in Deutschland lebenden Schutzsuchenden hat inzwischen einen rechtlich
anerkannten Schutzstatus. Die Datenlage ist aber kompliziert. Zum einen haben
wir die Entscheidungsstatistik des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), nach der etwa die Hälfte der
Geflüchteten einen Schutzstatus erhalten hat. Zum anderen die Zahlen des
Statistischen Bundesamtes, wonach es 78 Prozent sind. Die Diskrepanz zur
Entscheidungsstatistik des Bamf erklärt sich im Wesentlichen durch zwei
Umstände: Erstens werden über den Behördenweg noch viele anerkannt, zweitens
reisen viele wieder aus.

ZEIT ONLINE: Aber es werden doch nur sehr wenige Menschen abgeschoben?

Brücker: Die große Mehrheit der Menschen mit abgelehnten
Asylanträgen reist freiwillig wieder aus. Von 2015 bis Jahresende 2023 wurden in
der ersten Instanz 836.000 Asylanträge abgelehnt, aber der Bestand an ausreisepflichtigen
Menschen ist im gleichen Zeitraum nur von 108.000 auf 189.000 gestiegen. Diese
Diskrepanz können wir nur durch den Umstand erklären, dass die Menschen das
Land freiwillig wieder verlassen haben. Auch wenn unsere Datenlage nicht
optimal ist: Nur acht Prozent der hier lebenden Schutzsuchenden sind eigentlich ausreisepflichtig. Unser Asylsystem funktioniert also
offenbar gar nicht so schlecht. Die große Mehrheit der Menschen, die hier
leben, hat einen legitimen Schutzstatus.

ZEIT ONLINE: Gilt das auch für die Geflüchteten aus
Afghanistan und Syrien?

Brücker: 88 Prozent der hier lebenden Syrer und 78 der
Afghanen haben einen anerkannten Schutzanspruch, ein Prozent der Syrer und vier
Prozent der Afghanen haben abgelehnte Schutzanträge. Die Schutzquote der
Afghanen war lange niedriger, weil die Bundeswehr in Afghanistan gekämpft hat. Wenn
deutsche Truppen dort stehen, dann können diese Menschen auch in ihr Land zurückkehren,
so das Argument. Das hat sich allerdings seit der Machtübernahme der Taliban geändert.

ZEIT ONLINE: Wie ließen sich die Menschen, die nach
Deutschland gekommen sind, besser integrieren – zum Beispiel auf dem
Arbeitsmarkt?

Brücker: Acht Jahre nach dem
Zuzug arbeiten in Deutschland 68 Prozent der Geflüchteten. Bei den Afghanen und
Syrern, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, waren es sieben Jahre später 64
Prozent – 77 Prozent sind es im
Bevölkerungsdurchschnitt.

ZEIT ONLINE: Sieben Jahre ist ein langer Zeitraum.

Brücker: Im ersten Jahr nach der Ankunft in Deutschland
sind es nur zehn Prozent, die erwerbstätig sind. Der Anteil steigt aber nach etwa
zwei bis drei Jahren deutlich, wenn die Asylentscheidung gefallen ist und die
Integrationskurse abgeschlossen sind. Integration braucht Zeit. Aber die
Entwicklung ist viel günstiger, als wir 2015 erwartet haben. Und wir liegen
damit vor anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden, Dänemark,
Schweden, Norwegen und Österreich,

ZEIT ONLINE: Wo gäbe es Verbesserungsbedarf?

Brücker: Wir müssten das Asylverfahren beschleunigen, die
Geflüchteten viel schneller in Sprach- und Integrationsprogramme bringen und
die Hürden reduzieren, einer Arbeit nachzugehen und eigenes Geld zu verdienen.
Zudem dürfen wir sie nicht überdurchschnittlich auf strukturschwache Regionen
verteilen, in denen die Arbeitslosigkeit ohnehin schon hoch ist. Aber genau das
tun wir gerade.