Gleichwertigkeitsbericht: An dieser Aufgabe kann dieser Staat nur scheitern

Die Reaktionen auf den ersten Gleichwertigkeitsbericht der
Bundesregierung
waren überwiegend negativ. Die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger
mit der Daseinsvorsorge sei enorm, die Unterschiede in den Lebensbedingungen seien
zu hoch und der Staat komme seinen Verpflichtungen häufig nicht nach, so lautet der
Tenor. Aber ist diese Kritik berechtigt? Was bedeutet Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen überhaupt konkret – und sind die an den Staat gestellten Erwartungen
realistisch?

Der Bericht hat eine grundlegend positive
Botschaft, aber auch eine negative. Zuerst die positive: dass die Unterschiede
bei den wirtschaftlichen, sozialen,
gesellschaftlichen und anderen Bedingungen in allen 400 Landkreisen und
kreisfreien Städten abgenommen haben, jedenfalls wenn man sich die 42 Indikatoren ansieht, mit denen die Gleichwertigkeit gemessen wurde. Die Bundesregierung
kann also zu Recht behaupten, die Ungleichheit habe abgenommen. Zudem gab es in den vergangenen 15 Jahren insgesamt in fast
allen Regionen einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung – viele Menschen haben heute mehr Geld zur Verfügung und damit auch mehr Kaufkraft (trotz der in jüngeren Jahren vorübergehend sehr
hohen Inflation). Die Arbeitslosigkeit hat abgenommen, es gab zahlreiche weitere Verbesserungen bei den Lebensbedingungen.

Die negative Botschaft aber lautet: Sehr viele Menschen hierzulande sind
unzufrieden mit der Daseinsvorsorge. 80 Prozent finden die Wohnkosten zu hoch, viele bemängeln die Verfügbarkeit von Kitas, Schulen, Pflegeeinrichtungen
und Ärztinnen.

Die Enttäuschung ist vorprogrammiert

Die erste Frage ist, ob die Gleichwertigkeit als Ziel des
politischen Handelns überhaupt sinnvoll ist. Das Ziel ist im Grundgesetz verankert und hat daher einen hohen
Stellenwert. Im Grunde geht es um Chancengleichheit, die wichtig ist für eine soziale Marktwirtschaft und die
Demokratie. Eine wirkliche Gleichwertigkeit ist jedoch unrealistisch,
denn es wird immer regionale Unterschiede geben.
Wenn man also Gleichwertigkeit wörtlich nimmt, dann ist die Enttäuschung
vorprogrammiert. Wenn man jedoch die Daseinsvorsorge mit anderen Ländern
vergleicht, so zeigt sich, dass Deutschland deutlich besser dasteht als viele,
wenn nicht die meisten anderen Staaten. Die Unterschiede zwischen dem Norden und
Süden Italiens, in Spanien oder England sind deutlich größer als die
Unterschiede in Deutschland. Hierzulande sind viele regionale Unterschiede zudem kleiner geworden, was bei vielen anderen Staaten nicht der Fall ist. Es gibt also eine Konvergenz in den
Lebensumständen in Deutschland – und dies ist vor allem Ostdeutschland zu
verdanken, wo sich die meisten Regionen in den vergangenen 15 Jahren
wirtschaftlich hervorragend entwickelt haben.

Die zweite Frage ist, was Gleichwertigkeit genau bedeuten
soll. Jede Region ist anders – geografisch, demografisch und wirtschaftlich –
und hat daher unterschiedliche Anforderungen an die Lebensumstände. Eine
ländliche Region mit vielen älteren Einwohnern benötigt andere staatliche und private Daseinsvorsorge als eine schnell
wachsende Stadt mit vielen jungen Menschen. Gleichwertigkeit bedeutet
offensichtlich nicht Gleichheit und erfordert eine Priorisierung und
Gewichtung, die für jede Region anders ist.

Der dritte Punkt und das größte Problem ist, dass
Gleichwertigkeit für die meisten Bürgerinnen in Wahrheit irrelevant sein
dürfte. Es ist ein politischer Anspruch, mit dem die meisten Menschen
nichts anfangen können. Eine junge Auszubildende in Görlitz vergleicht sich
nicht mit einer Auszubildenden in Hamburg oder einer in Trier. Sie
vergleicht sich eher mit ihrem Umfeld. Sie leitet Ansprüche von dem ab, was
ihre Eltern ihr vermitteln oder ihre eigenen Erfahrungen sind.

Diese drei Punkte sind wichtig für die Politik. Wenn
sie auf Grundlage eines solchen Gleichwertigkeitsberichts nun überlegt, wie sie
ihre vielen regionalen Förderprogramme
verteilen und wofür sie viele Milliarden Euro ausgeben will, dann sind die Unterschiede über
die 42 Indikatoren hinweg nur begrenzt aussagekräftig. Viel relevanter ist, was
Menschen in unterschiedlichen Regionen für ein selbstbestimmtes Leben brauchen,
was Regionen besonders macht, wo ihre komparativen Vorteile liegen und wie
individuell und unterschiedlich in Regionen Wohlstand und Zufriedenheit
entstehen können.

Wie realistisch sind die Erwartungen an den Staat?

Hier offenbart sich der große Widerspruch zwischen Anspruch
und Realität im Bericht. Mehr als zwei von drei Bürgerinnen und Bürger
sind mit ihrer persönlichen Lebenssituation durchschnittlich oder
überdurchschnittlich zufrieden, die Mehrheit jedoch zeigt eine zum Teil hohe
Unzufriedenheit mit vielen Dingen der Daseinsvorsorge. In anderen Worten: Die
mangelnde Daseinsvorsorge führt offensichtlich nicht dazu, dass es den meisten
Menschen schlecht geht und sie mit ihrem eigenen Leben unzufrieden sind.

Daher stellt sich die Frage, ob die Menschen realistische Erwartungen an den Staat und die Politik haben, was die Daseinsvorsorge
betrifft. Wir erleben große Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft – durch die Demografie, durch neue Technologien, die unser tägliches Leben stark verändern. Arbeit verändert sich, und
die Verteilung von Einkommen, Ressourcen und Chancen wird ungleicher. Nur
wenige dieser Veränderungen können durch Politik und Staat beeinflusst werden. Der Staat muss zwar versuchen, Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass möglichst
alle Menschen mit diesen Veränderungen gut umgehen können. Der größte Teil der
Anpassung muss jedoch von jedem Individuum kommen – hier ist nun mal jeder und jede auch selbst verantwortlich. Die vielleicht wichtigste
Erkenntnis des ersten Gleichwertigkeitsberichts ist daher: Mehr
Eigenverantwortung ist genauso wichtig wie stärkere staatliche Anstrengungen bei
der Daseinsvorsorge.