Gesetzliche Krankenkasse: Scharfe Kritik nachdem Erhöhungsprognose – WELT
Gesetzlich Krankenversicherte müssen 2025 mit einer Beitragserhöhung rechnen. Gesundheitsminister Lauterbach mahnt Reformen im Gesundheitssystem an. Die Kritik daran ließ nicht lange auf sich warten.
Verbände, Krankenkassen und Opposition haben angesichts der prognostizierten deutlichen Erhöhung der Krankenkassenbeiträge im kommenden Jahr scharfe Kritik geübt. „Mit den anstehenden Beitragssatzerhöhungen wird die finanzielle Belastbarkeit der Versicherten und Arbeitgebenden zunehmend an ihre Grenzen gebracht“, erklärte Doris Pfeiffer, die Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen (GKV). „Vor diesem Hintergrund ist unerklärlich, dass die Gesundheitspolitik der sich immer schneller drehenden Beitragsspirale tatenlos zuschaut“, fügte sie hinzu.
Die Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland, Michaela Engelmeier, erklärte, es könne nicht sein, dass gesetzlich Versicherte die Zeche zahlen und erneut Beitragssteigerungen genutzt würden, um Defizite auszugleichen. „Diese Praxis muss beendet und gesamtgesellschaftliche Aufgaben müssen aus Steuermitteln finanziert werden.“ Vom Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) hieß es, die Entwicklung sei auch Folge falscher politischer Entscheidungen. „Die Politik muss endlich strukturelle, nachhaltige Lösungen sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite finden“, forderte Gesundheitsexperte Thomas Moormann vom vzbv.
Anstieg um 0,8 Prozent
Experten des sogenannten Schätzerkreises hatten für das Bundestagswahljahr 2025 eine rechnerisch nötige Beitragssatzerhöhung um 0,8 Punkte auf 2,5 Prozent vom beitragspflichtigen Einkommen ermittelt, wie das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) in Bonn mitteilte. „Politico“ hatte zuvor berichtet.
Bei dem Wert handelt es sich allerdings nur um eine theoretische Größe. Wie sehr der Beitragssatz dann wirklich steigt, entscheidet jede Krankenkasse für sich. Im Schätzerkreis sitzen Fachleute des Bundesgesundheitsministeriums, des BAS und des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen (GKV).
Konkret geht es um den Anstieg des sogenannten Zusatzbeitrages. Alle gesetzlich Versicherten haben den festen Beitragssatz von 14,6 Prozent – zur Hälfte getragen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Darüber hinaus erheben die aktuell 95 gesetzlichen Kassen zur Kostendeckung einen Zusatzbeitrag, der ebenfalls hälftig von beiden Seiten gezahlt wird.
Der Zusatzbeitrag ist unterschiedlich und liegt laut einer ständig aktualisierten GKV-Liste im Moment zwischen 0,7 und 3,28 Prozent. Eine Kasse ist darunter, die keinen Zusatzbeitrag erhebt. Der durchschnittlich von den Krankenkassen erhobene Zusatzbeitragssatz lag im August bei 1,78 Prozent, wie das Bundesgesundheitsministerium mitgeteilt hatte.
Bei 3000 Euro brutto 12 Euro weniger netto
Die Prognose des Schätzerkreises ist nach GKV-Angaben eine theoretische Größe, die sich aus dem Verhältnis von laufenden Einnahmen und Ausgaben der Krankenkassen insgesamt ergibt. Die Ausgaben der Krankenkassen im Jahr 2025 werden demnach mit 341,4 Milliarden Euro veranschlagt. Auf Basis dieser Schätzung gibt das Gesundheitsministerium bis zum 1. November einen durchschnittlichen Zusatzbeitrag für das kommende Jahr bekannt.
Daher lassen sich jetzt noch keine genauen Angaben zur tatsächlichen Höhe der Kosten für den Einzelnen machen. Rechnerisch würde eine Erhöhung um 0,8 Prozentpunkte bei einem Einkommen von 3000 Euro brutto im Monat 12 Euro weniger netto bedeuten – die anderen 12 Euro zahlt der Arbeitgeber. Erhöht eine Kasse den Zusatzbeitragssatz, haben die Mitglieder ein Sonderkündigungsrecht.
Die Kassen hatten schon Anfang September gewarnt, dass ihre Ausgaben im ersten Halbjahr noch stärker gestiegen seien als im ersten Quartal. Das Defizit sei auf mehr als 2 Milliarden Euro angewachsen und werde im Gesamtjahr bis zu 4,5 Milliarden Euro erreichen.
Für eine auskömmliche Finanzierung hätte der Zusatzbeitrag für das laufende Jahr im Herbst letzten Jahres nicht bei geschätzten 1,7, sondern bei 2 Prozent liegen müssen, kritisierte der GKV-Spitzenverband. Er hatte außerdem mitgeteilt, dass er für 2025 von einem Zusatzbeitragssatz von mindestens 2,3 Prozent ausgeht.
„Das deutsche Gesundheitswesen ist das teuerste in Europa“, sagt Lauterbach
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) teilte in einer ersten Reaktion mit: „Das deutsche Gesundheitswesen ist das teuerste in Europa, weil es in vielen Bereichen nicht effizient ist.“
Eine wesentliche Ursache für die steigenden Kassenbeiträge seien im Rekordtempo steigende Ausgaben für Krankenhäuser. „Deswegen brauchen wir die Krankenhausreform“. Diese soll am Donnerstag im Bundestag beschlossen werden und die Finanzierung der Kliniken im Land auf eine neue Grundlage stellen. Die Prognose des Schätzerkreises zeige die Notwendigkeit der von der Bundesregierung eingeleiteten Strukturreformen, sagte Lauterbach.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums lagen die Ausgaben der Kassen im ersten Halbjahr bei 161,3 Milliarden Euro – ein Plus von 7,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Die Ausgaben für Krankenhausbehandlungen seien in den ersten sechs Monaten um 3,6 Milliarden Euro gestiegen und stellten damit einen maßgeblichen Treiber der hohen Ausgabendynamik dar, hieß es im September vom Ministerium. Steigende Fallzahlen und steigende Pflegepersonalkosten werden unter anderem als Gründe genannt. Außerdem seien die Ausgaben für Arzneimittel im ersten Halbjahr um 10 Prozent (2,5 Milliarden Euro) gestiegen.
Vorwurf der Untätigkeit
Der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge warf Gesundheitsminister Lauterbach bei der Regierungsbefragung im Bundestag vor, wichtige Reformen anzukündigen und nichts passiere. Ähnliche Vorwürfe kamen aus der AfD von deren gesundheitspolitischem Sprecher Martin Sichert. Lauterbach wies das zurück. Aktuell seien sieben Gesetze im parlamentarischen Verfahren, unter anderem die Krankenhausreform, die an diesem Donnerstag beschlossen werden soll. Zudem seien 15 Gesetze schon beschlossen worden. „Mein Haus arbeitet unter Volllast“, sagte der SPD-Politiker.
dpa/Reuters/ll/jml
Source: welt.de