Friedrich Merz: Keine Tabus mehr

Zu wenig, zu langsam, zu unambitioniert! Was die Ampel als
Reaktion auf die tödliche Messerattacke in Solingen plant, ist Friedrich Merz
viel zu lasch. Er fordert nicht weniger als einen umfassenden „Paradigmenwechsel“
in der Migrationspolitik, wie er es nennt. „Es ist genug, es reicht“, lautet
seine zentrale Botschaft, die er am Dienstagnachmittag auf der
Bundespressekonferenz zu Protokoll gibt.  

Deutschland leide demnach seit Jahren an illegaler und kaum
kontrollierter Zuwanderung. Diese Debatte müsse man nun – nach Solingen und Mannheim
schonungslos führen und Konsequenzen ziehen, so Merz. „Keine Tabus mehr“, das
fordert er wörtlich mehrfach. Seine Diagnose: „Es geht einfach nicht mehr.“
Aber der Ampel fehle Problembewusstsein und Gestaltungswille. Typisch für diese
Regierung sei, dass sie ausführlich beschreibe, was alles nicht geht. Und dabei
auch noch streite.

Merz wütet. Aber nicht nur. Seine Kritik beinhaltet auch ein
konkretes Angebot zur Kooperation. Immer wieder beteuert er seinen guten
Willen. Ihn treibe „tiefste Sorge um unser Land“ um. Dem Bundeskanzler
entgleite dieses Land, sagt Merz und betont: Er sei
„nicht nur Oppositionsführer“, sondern „auch Staatsbürger“. Ja, Merz beteuert
sogar: Scholz sei „auch mein Bundeskanzler“. Natürlich wolle er da helfen. Bestimmt
ein halbes Dutzend Mal sagt der CDU-Vorsitzende, dass ihn „keine Taktik“
leite, sondern sein Verantwortungsgefühl für die Bundesrepublik.  

Deswegen hat er dem Bundeskanzler am Vormittag im Kanzleramt
während eines gut einstündigen Treffens, das die beiden schon länger vereinbart
hatten, ein Angebot gemacht. Ein „vergiftetes Angebot“, wie sie es in der
Koalition umgehend nennen, um die Regierungsparteien zu spalten.  

Vorbild ist der Asylkompromiss der Neunzigerjahre

Merz‘ Idee: Er und Scholz sollen mithilfe von ausgewählten „Beauftragten“ Vorschläge für rasche Gesetzesänderungen machen. Diese könne man in
der kommenden Sitzungswoche im Bundestag, Anfang September, beraten und
gemeinsam verabschieden. Sein Angebot zielt auf alle Parteien der
„demokratischen Mitte“, wie Merz es nennt, also Union plus die drei
Ampelparteien. Aber in seinen Ausführungen lässt er anklingen, dass er vor
allem mit der Zustimmung der SPD rechnet. Die FDP stelle sich beim Datenschutz
immer so an, die Grünen bei den humanitären Fragen. Scholz, so Merz‘ Vorschlag, solle die Abstimmung im Bundestag freigeben: „Wenn wir uns zusammenraufen, Union und SPD, dann brauchen wir weder
die FDP noch die Grünen.“ Dass das einem Koalitionsbruch gleichkäme, wie ihm Journalisten entgegenhalten, sieht Merz nicht so.

Als Vorbild schwebt Merz eine Art Wiederauflage des
Asylkompromisses aus den Neunzigerjahren vor. Damals taten sich die regierende
Union und die opponierende SPD zusammen, um das Asylrecht zu ändern. Auch
innerhalb der Ampel war zuletzt öfter die Rede von einem solch
großkoalitionären Kompromiss.

Aber es ist mehr als fraglich, ob die Ziele, die Merz nennt,
auch bei der SPD oder anderen Ampelparteien mehrheitstauglich sind. Merz will
nicht nur Menschen nach Syrien und Afghanistan wieder konsequent abschieben, er
plant „bis auf Weiteres“ einen generellen Aufnahmestopp für Menschen aus diesen Ländern. Ein
Vorschlag, den Ampelvertreter bereits als verfassungswidrig abgelehnt haben.
Was man nun plane, dürfe nicht „gegen das Grundgesetz verstoßen oder die
UN-Menschenrechtscharta oder Ähnliches“, erinnerte Regierungssprecher Steffen
Hebestreit höflich. 

Was die Ampel bislang plant

Wie ein solcher Aufnahmestopp rechtlich umgesetzt werden
soll, ließ Merz bislang offen. Notfalls könne man eine „nationale Notlage“
ausrufen und sich über EU-Gesetze hinwegsetzen, führt er am Dienstag aus. Auch über Grundgesetzänderungen könne nachgedacht werden. Schwer
vorstellbar, dass die Ampel hier zustimmt. Auch Merz‘ grundsätzliche Diagnose,
dass das Land wegen der Zuwanderung kurz vor einem Kollaps stehe, teilen
zumindest Grüne und weite Teile der SPD nicht. 

Gleichwohl sehen sie Reformbedarf: Auch Olaf Scholz hat
„schnelle Reaktionen“ als Konsequenz auf Solingen angekündigt. Die
Bundesregierung arbeite an einem „Dreiklang“, sagte Justizminister Marco
Buschmann. Demnach gehe es, erstens, um eine Verschärfung und Beschleunigung
der Abschiebepraxis, zweitens um Maßnahmen im Kampf gegen den Islamismus und,
drittens, um eine Verschärfung des Waffenrechts. Tatsächlich aber, da hat Merz
schon recht, sind mehrere Details Ampel-intern noch strittig.  

Dennoch ist es ein bisschen ungerecht, der Bundesregierung
vorzuhalten, nur zu streiten und das Thema zu ignorieren. Tatsächlich hat die
Ampel die Gesetzeslage bereits verschärft und auch Grenzkontrollen wieder
eingeführt. Seither ist die Zahl der Abschiebungen um 30 Prozent gestiegen und
die Zahl der Asylantragsteller signifikant gesunken, wie Mitglieder der
Bundesregierung gern betonen. Scholz hatte öffentlich und zur Kritik vieler
Parteifreunde ja selbst Abschiebungen im „großen Stil“ gefordert. 

Es klingt wie eine Erpressung

Sollte der Kanzler nicht auf das von ihm vorgeschlagene
Prozedere eingehen, warnt Merz, habe er noch andere Möglichkeiten. Es klingt
wie eine Erpressung. Seine Fraktion werde die
Vorschläge sonst im Bundestag allein einbringen und namentlich darüber
abstimmen lassen. Dann werde man schon sehen, wie gespalten die Ampel ist und
wie populär die Unionspläne, so womöglich das Kalkül. 

Auch wenn Merz es pflichtschuldig verneint: Selbst in der
Union weisen manche darauf hin, dass diese Initiative auch dem derzeitigen
Wahlkampf geschuldet ist. Während Merz zur Hauptstadtpresse spricht, wirbt
Scholz gleichzeitig auf einem Marktplatz in Jena darum, dass seine Partei nicht
aus dem Parlament fliegt. Hier sagt der Kanzler übrigens mit Blick auf Merz,
dass „viele praktische Vorschläge willkommen“ seien. Ein typischer
Scholz-Satz, der alles und nichts heißen kann. 

Fünf Tage vor der Wahl ist Merz‘ Auftritt durchaus als
Versuch der Profilierung zu verstehen, der jetzt die Initiative selbst zu
ergreifen versucht. Schließlich will der CDU-Chef sich in einigen Tagen zum
Kanzlerkandidaten seiner Partei ausrufen lassen. Außerdem will er der AfD nicht
allein die Kritik überlassen. Die wiederum kritisiert den
nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (ebenfalls CDU, aber
Merz-kritisch) gleichzeitig für Versäumnisse, die seinen Landesbehörden
unterlaufen seien. Mögliche Fehler der CDU-geführten Landesregierung will Merz
an diesem Tag nicht kommentieren.  

Indirekt ist es auch eine Art Abgrenzung zu Scholz‘
Vorgängerin im Kanzleramt, ebenfalls eine Parteifreundin von Merz, mit der er
in beidseitiger Abneigung verbunden ist. Ob seine Pläne auch das „Ende der
Willkommenskultur“ und ein Ende von „Wir schaffen das“ seien, wird Merz
gefragt. Begriffe, die Angela Merkel geprägt hat. Merz räumt ein, dass die
Union an der derzeitigen Lage „nicht unschuldig“ sei. Und dann beteuert er,
dass er sich diese Begriffe „nie“ zu eigen gemacht habe.

Tatsächlich klingt es bei ihm eher nach 1995 als nach 2015.
Wie sagten damals viele Politiker? Das Boot ist voll.