Folgt gen dies zweite Krisenjahr noch ein drittes?

Martin Wansleben hat nicht mehr viel Zeit. In zwei Monaten geht der langjährige Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) in Rente. Die Vorstellung der neuesten Konjunkturprognose des Verbands am Dienstag nutzte er, um der Politik die Leviten zu lesen. Zur Forderung des Kanzlers, die Arbeitsplätze beim kriselnden Autohersteller Volkswagen müssten erhalten bleiben: „Der Staat kann nicht Hunderttausende Kunden ersetzen, die es braucht, um ein Werk auszulasten.“ Zu den Klimazielen: „Im Green Deal der EU steht, Europa soll der erste Kontinent sein, der klimaneutral wird. Da kann ich nur sagen: Streber haben keine Freunde auf dem Schulhof.“ Zu der Investitionsprämie, die der Wirtschaftsminister vorgeschlagen hat: „Der Standort schätzt sich selbst so mies ein, dass er sich mit Rabatt verkaufen muss?“ Da komme jeder Kaufmann ins Grübeln.

Anders als Vertreter großer Industrieunternehmen war Wansleben nicht zu dem Industriegipfel von Olaf Scholz (SPD) am Dienstagnachmittag im Kanzleramt eingeladen – wohl aber zu der Konkurrenzveranstaltung von FDP-Fraktionschef Christian Dürr und Finanzminister Christian Lindner. Wansleben nahm es gelassen: „Der Bundeskanzler hat das Recht, uns nicht einzuladen. Wir leiden nicht unter Liebesentzug.“

Das Kanzleramt, offenbar überrascht von den vielen negativen Reaktionen auf die Veranstaltung von Scholz, bemühte sich zuletzt, die Bedeutung der Gesprächsrunde herunterzuspielen. Keine Fotos, keine Pressestatements und die Beschwichtigung, es sollten weitere Treffen folgen, dann womöglich mit den zuständigen Ministern und mittelständischen Verbänden.

„Wir brauchen Entbürokratisierung“

Die Ergebnisse der jüngsten Konjunkturumfrage der DIHK unter rund 25.000 Unternehmen aus allen Branchen sind alles andere als gut. Der Verband erwartet nicht nur, wie auch die Bundesregierung, dass die deutsche Wirtschaftsleistung 2024 das zweite Jahr in Folge schrumpft. Auch für das Wahljahr 2025 sei nur ein „Null-Wachstum“ realistisch. Damit sind die Unternehmen deutlich pessimistischer als Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der Anfang Oktober für 2025 1,1 Prozent Wachstum vorausgesagt hat. „Die deutsche Wirtschaft verliert den Anschluss“, warnte Wansleben. Die Energiekosten seien drei- bis viermal so hoch wie in den Vereinigten Staaten. Bürokratie werde nur selektiv abgebaut. Es helfe Unternehmen nichts, wenn sie zwar einen Elektrolyseur zur Wasserstoffherstellung schnell bauen könnten, aber alles, was es brauche, um ihn zu betreiben, etwa der Zugang zu Wasser oder neue Straßen, dauere ewig.

Die Investitionen der Unternehmen liegen der Umfrage zufolge immer noch deutlich unter dem Vor-Corona-Niveau. Der Export dürfte 2024 und 2025 stagnieren. Allenfalls der private Konsum könnte leicht anziehen. Insgesamt fällt der Ausblick für das kommende Jahr vernichtend aus: „Für 2025 geben es unsere Zahlen nicht her, optimistisch zu werden. Im Gegenteil, an manchen Stellen lassen die Rückmeldungen der Unternehmen befürchten, dass es noch schlechter kommen könnte“, so Wansleben. Am 26. November tagt er mit den anderen Teilnehmern des „Bündnisses Zukunft der Indus­trie“ mit Habeck. Das schon im Sommer anberaumte Treffen dürfte diesmal besonders spannend werden.

Zwei Stunden nach der Veröffentlichung der Zahlen begann im Bundestag der Wirtschaftsgipfel der FDP. Wansleben und Handwerkspräsident Jörg Dittrich eilten anschließend zügig davon. Die anderen Wirtschaftsvertreter machten unverblümt deutlich, dass sich das Land die koalitionsinternen Streitereien nicht länger leisten kann. Er erwarte von der Ampel, dass sie gemeinsam „und ich betone gemeinsam“ die richtige Wirtschaftspolitik mache, um diesen Standort wieder wettbewerbsfähig zu machen, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. „Wir müssen jetzt nach dem politischen Schaulauf ins Handeln kommen.“

Lindner: Kleine Betriebe haben andere Bedürfnisse

Stephan Hofmeister vom Bundesverband der freien Berufe (BFB) legte nach: „Wir brauchen Entbürokratisierung. Wir brauchen Zuverlässigkeit in der politischen Orientierung, in der Gesetzgebung.“ Das habe alles nicht Zeit bis nächstes Jahr, bis nach der Wahl. Die regierenden Parteien müssten sich zusammenfinden und Lösungen aufzeigen. „Was wir brauchen ist, von der Kette gelassen zu werden“, mahnte der BFB-Präsident. Familienunternehmerpräsident Reinhold von Eben-Worlée wurde nach dem Gespräch mit den beiden FDP-Politikern konkret. Er forderte eindringlich mehr Deregulierung und Entlastung des Mittelstands, „zum Beispiel durch eine Verschiebung des Rentenpakets“. „Mit diesem Rucksack sollen wir den Marathonlauf gegen die internationalen Konkurrenten gewinnen – das ist kaum möglich.“

Mit der geplanten „Haltelinie“ des Rentenniveaus bei 48 Prozent wird der Nach­hal­tig­keits­fak­tor ausgeschaltet, die Renten und damit die Beiträge steigen stärker als mit dem geltenden Recht. Das von der FDP durchgesetzte Generationenkapital kann diese Kostenbelastung bei Weitem nicht ausgleichen. Lindner ging auf den dezent, aber gleichwohl unmissverständlich vorgetragenen Hinweis von Eben-Worlée nicht ein.

Der FDP-Vorsitzende vermied zwar ganz harte Töne gegen die Koalitionspartner, aber eine kleine Spitze in Richtung Kanzleramt und den dortigen Wirtschaftsgipfel konnte er sich doch nicht verkneifen. Natürlich müsse man mit der Industrie sprechen, da Deutschland seinen industriellen Kern erhalten müsse. Aber die deutsche Wirtschaft sei mehr, zu gut drei Viertel Mittelstand, Handwerk, Handel, Start-ups und freie Berufe, listete er auf. Auch ihre Perspektive müsse einbezogen werden. „Die kleinen Betriebe, Freiberufler und Solo-Selbständigen haben ganz andere Bedürfnisse als große Konzerne und Industriebetriebe.“

Ein wenig erfreulicher Ausblick kam am Dienstag von der Unternehmensberatung Deloitte . Sie hat 185 Finanzvorstände deutscher Großunternehmen nach ihren Investitionsplänen gefragt. Wenig überraschend wollen sie in Zukunft mehr Geld im Ausland investieren. Während aktuell noch eine deutliche Mehrheit der Befragten (82 Prozent) ihren Investitionsschwerpunkt in Deutschland sieht, erwarten das in fünf Jahren nur noch 63 Prozent. Dazu passt, dass Volkswagen sein angekündigtes günstigeres Elektroauto – der ID.2, der um die 25.000 Euro kosten soll – nicht in Deutschland mit seinen hohen Lohn- und Energiekosten fertigen will, sondern im spanischen Seat-Werk. Für den noch günstigeren ID.1 – Zielmarke: 20.000 Euro – gelten Werke des Konzerns in Portugal, Polen oder Tschechien als Favoriten.

Am Ende des Tages blieb die Frage aller Fragen, nämlich was die Koalition zu ändern gedenkt, unbeantwortet. Lindner formulierte unverbindlich: Man habe zusätzliche Argumente ausgetauscht und werde das einbeziehen in die regierungsinternen Beratungen. „Klar ist, dass wir in den nächsten Wochen allein aufgrund der Zeitplanung für den Bundeshaushalt 2025 zu einer gemeinsamen Position finden müssen.“ Die zentrale Sitzung des Bundestags-Haushaltsausschusses ist für den 14. November geplant.