Feurige Proteste am Duisburger Stahlwerk

Über die ganze Breite der Wiese vor der Thyssenkrupp-Stahlzentrale in Duisburg ist ein gigantisches Transparent ausgerollt. „Zukunft statt Kündigung“ ist darauf zu lesen. Vor dem Plakat haben die Beschäftigten die Wiese in einen symbolischen Friedhof verwandelt und Holzkreuze und Grablichter aufgestellt. Zwischen „Friedhof“ und Büroturm stehen rote IG-Metall-Zeltpavillons und eine schwarze Wand. Daran sind riesige Fotos von Miguel López befestigt, dem Vorstandsvorsitzenden der Thyssenkrupp AG. López’ Gesicht ist in roter Farbe durchgestrichen, darüber prangt die Zeile „LópezNotMyCEO“.

Vor den Drehtüren der Zentrale hat die IG Metall eine symbolische Barrikade errichtet, Hunderte Beschäftigte, zum Teil in Arbeitskleidung und mit Trillerpfeifen, blockieren die Straße, brüllen über Lautsprecher „Stahl ist Zukunft“ und „López raus“. Rechts und links des Büroeingangs lodern brennende Tonnen und produzieren Qualmwolken, die über dem Gelände hängen.

Vor der Aufsichtsratssitzung der kränkelnden Stahlsparte von Thyssenkrupp an diesem Donnerstag haben sich Teile der Belegschaft und „Vertrauensleute“ der IG Metall hier am Duisburger Stahlstandort versammelt, rund 1000 Menschen, so schätzt es die Polizei am Rand der Veranstaltung. Vergleichsweise wenige im Vergleich zum Frühjahr, als noch mehrere Tausend kamen und sich die Proteste noch um den Teilverkauf der Sparte rankten, der nun längst besiegelt ist. Aber auch 1000 Leute sind ziemlich laut.

So laut, dass sich sogar die Bundesregierung und das Land Nordrhein-Westfalen einmischten. „Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst haben den Aufsichtsrat der Thyssenkrupp Steel Europe AG und den Aufsichtsrat der Anteilseignerin Thyssenkrupp AG gebeten, die für heute angesetzte Aufsichtsratssitzung um vier Wochen zu verschieben, um die Möglichkeit für weitere Gespräche zu eröffnen“, sagte ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums. Doch nun hat die Sitzung schon begonnen.

In den vergangenen Tagen war der Streit über die Zukunft der Stahlsparte des Industriekonzerns abermals eskaliert. Mutter- und Tochtergesellschaft, also Thyssenkrupp AG und Stahlsparte (TKSE), sind uneins über Mittel und Wege, um den Stahl wieder profitabel aufzustellen, aber auch Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter streiten. Vergangenen Mittwoch kamen Gerüchte über personelle Konsequenzen des Zwists auf. López wolle drei der fünf Spartenvorstände entlassen, hieß es, darunter auch den unter Beschäftigten beliebten Stahl-Vorstandschef Bernhard Osburg.

Die Arbeitnehmervertreter, die sich vor der Aufsichtsratssitzung in einem roten IG-Metall-Zelt zur „Mahnwache“ versammelt haben, glauben, dass die Gerüchte wahr sind. „Wir waren entsetzt und erschrocken, als wir davon erfahren haben“, sagt Karsten Kaus, Geschäftsführer der IG Metall Duisburg Dinslaken. Dass bei der Aufsichtsratssitzung etwas passieren werde, habe man erwartet, dass gleich drei Stahlvorstände im Vorfeld der Sitzung einen Aufhebungsvertrag vorgelegt bekommen, sei überraschend. Wortfetzen dringen aus dem Mahnwache-Zelt: „Der Bernhard ist ein Stahlkind!“ Oder: „Der Einzige, der uns als Stahl versteht.“

Draußen auf der Bühne werden die Redner deutlicher. „Der Verbrecher López ist unterwegs und will hier den Kahlschlag machen“, ruft Ali Güzel ins Mikrofon. Er ist Betriebsratsvorsitzender von TKSE am Standort Duisburg-Beeckerwerth. Güzel glaubt, López werde nun „seine eigenen Leute installieren“, um seine Vorstellungen umzusetzen.

Auch die Lokalpolitik findet klare Worte. „Der Umgang von Thyssenkrupp mit der Duisburger Stahlsparte, der Keimzelle des gesamten Konzerns, ist extrem besorgniserregend“, sagte der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link (SPD) der F.A.Z. „Große Teile der Führungsebene auszutauschen und damit auch einen enormen Kompetenzverlust in Kauf zu nehmen ist für mich keine Strategie, sondern Ausdruck einer beängstigenden Hilflosigkeit.“

Ihren Ursprung genommen hatte die abermalige Eskalation als Arbeitnehmervertreter vergangene Woche per Flugblatt ein Rechenszenario in die Welt setzten, dem zufolge der Konzernvorstand die Stahlproduktionskapazitäten noch weiter als auf die bislang zur Diskussion stehenden 9 bis 9,5 Millionen Tonnen je Jahr senken wolle. Dies wiederum würde – so behaupten es Gewerkschaftsvertreter – aus technischen Gründen zu einer Halbierung der Produktion führen. Arbeitnehmervertreter kolportierten weiterhin, dass dadurch 10.000 Stellen bedroht seien – eine gewaltige Zahl.

Der Konzern konterte, es gab und gebe keine „konzernseitige Planungsvorgabe zum Betriebspunkt“. Es würden „unnötigerweise Ängste und Befürchtungen bei unseren Mitarbeitenden geschürt“.

Diese Ängste entluden sich auch schon in den vergangenen Tagen. Mit „mobilen Betriebsratsbüros“, die kleinen Demonstrationen gleichkamen, hatten Beschäftigte mehrfach die Zufahrt zum Stahlwerk blockiert. Daraufhin verschickten die zehn Anteilseigner im Aufsichtsrat der Thyssenkrupp AG einen offnen Brief, in dem sie die Kommunikation der Arbeitnehmervertreter verurteilten und sie unter anderem aufforderten, „die Situation nicht weiter aufzuheizen“ und „jegliche Gefahren für die Sicherheit von Menschen und Anlagen zu vermeiden“.

Am Ende der Erklärung findet sich zudem die Bemerkung, die Anteilseignervertreter unterstützten Miguel López „voll und ganz“ in seinem auf die notwendigen Restrukturierungen ausgerichteten Handeln. Das Anteilseigner-Statement wiederum rief die IG Metall auf den Plan, deren stellvertretender Vorsitzender Jürgen Kerner die Gefahren „herbeiphantasiert“ nannte und äußerte: „Nicht wer „Feuer“ ruft, ist für den Brand verantwortlich, sondern wer das Feuer legt.“

TKSE leidet unter geringer Profitabilität. López möchte das Stahlgeschäft sanieren und aus dem Konzern herauslösen. Die Holding EPCG des tschechischen Milliardärs Daniel Kretinsky hat schon 20 Prozent an TKSE erworben, perspektivisch sollen es 50 Prozent werden. Der aktuelle Streit geht auch um die Höhe der Mitgift, die der Konzern der Sparte mit in die Selbständigkeit gibt.