Europe 2025: Annalena Baerbock warnt vor einer „Zeit der Ruchlosigkeit“

Die geschäftsführende Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat angesichts des Kriegs in der Ukraine, des Nahostkriegs und der von den USA ausgehenden Instabilität vor einer „Zeit der Ruchlosigkeit“ in der internationalen Politik gewarnt. „Es ist die außenpolitische Aufgabe unserer Zeit, uns damit nicht abzufinden“, sagte Baerbock bei EUROPE 2025, einer Konferenz, die unter anderem von der ZEIT ausgerichtet wird. Die Verteidigung der regelbasierten Weltordnung sei nicht in erster Linie eine Frage der Moral, sondern liege „in unserem tiefsten Sicherheitsinteresse“.

„Wir sind ein starkes Land“, sagte Baerbock. „Aber wenn wir uns mit offenen Augen in der Welt umschauen, sind wir keine militärische Weltmacht.“ Deutschland sei abhängig von freien Handelsrouten, verlässlichen Sicherheitsbündnissen und offenen Märkten – und müsse daher die Rechtsnormen verteidigen, die das ermöglichten. „Auf dem Spielfeld der Ruchlosigkeit hingegen können wir nie gewinnen“, sagte die Noch-Außenministerin. „Wir können auf diesem Spielfeld nur verlieren.“ 

„Es ist nicht unser Schicksal, in einer ruchlosen Welt zu leben“

Um das zu verhindern, forderte die Grünenpolitikerin ein geeintes und selbstbewusstes Auftreten Europas und mit der EU verbündeter Demokratien gegen aggressive Mächte auch in anderen Erdteilen. So verwies sie etwa auf das jüngst im Bundestag verabschiedete Schuldenpaket, das die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands stärken soll: „Die finanziellen Mittel sind jetzt da. Scheitern kann es nur am politischen Willen, an der eigenen Ambitionslosigkeit.“

Im Hinblick auf Handelskonflikte mit China und den USA plädierte Baerbock dafür, die Stärke Europas nicht zu unterschätzen. Die EU sei bei mehr Warengruppen Exportführer als China, jedes siebte Patent weltweit werde von Deutschland gehalten. Dem Vorsprung der USA im digitalen Bereich stellte die Ministerin die europäischen Regulierungsmöglichkeiten entgegen – und drohte den USA damit, als Antwort auf Sonderzölle mithilfe der europäischen Regulierungs-„Toolbox“ gegen US-Digitalkonzerne vorzugehen. 

„Wenn andere (…) die Kettensäge zu ihrem Lieblingsinstrument erklären, werden wir es ihnen ganz sicher nicht nachmachen können“, sagte Baerbock weiter. Die Antwort könne aber auch nicht sein, sich mit Brüchen internationaler Regeln abzufinden. „Man muss sich nie mit etwas abfinden im Leben. Erst recht nicht mit Dingen auf seinem eigenen Kontinent“, sagte Baerbock. „Es ist nicht unser Schicksal, in einer ruchlosen Welt zu leben (…) Wir sind gemeinsam die größte Freiheits- und Friedensuinon. Wir haben Kraft.“

Baerbock droht Ungarn Aussetzung von EU-Stimmrechten an

Für ein starkes Auftreten der EU nach Außen benötige diese aber Einigkeit, mahnte Baerbock an. Ohne das Land beim Namen zu nennen, beklagte sie sich etwa über ungarische Blockaden der EU-Sanktionen gegen Russland sowie des Beitrittsprozesses der Ukraine. Das widerspreche dem in Artikel 4 des EU-Vertrags verankerten Grundsatz der „loyalen Zusammenarbeit“, sagte Baerbock – und müsse Konsequenzen haben: Man könne sich nicht „damit abfinden, dass ein einziges EU-Land genau das Gegenteil macht“, sagte sie.

Es sei an der Zeit, „deutlich zu machen: Wer diesen Grundsatz blockiert oder attackiert, der muss mit einem anderen Artikel rechnen“, sagte Baerbock und sprach dabei von Artikel 7 des EU-Vertrags – der die Möglichkeit vorsieht, die Stimmrechte eines Mitgliedsstaats auszusetzen. Dabei und generell bei der EU-Außenpolitik sprach sich Baerbock gegen Kompromisse und für ein konsequentes Vorgehen aus: „Zwischen den Stühlen wird nicht funktionieren“, sagte sie. „Ein bisschen ’starkes Europa'“ sei wie „‚ein bisschen schwanger‘. Das kann niemals funktionieren.“  So sei es etwa bei der Europäischen Verteidigungsunion „keine Frage mehr, ob“, sondern „wie schnell bringen wir sie auf den Weg?“

Weniger eindeutig fielen Baerbocks Statements in einem Interview aus, das sich an ihre Rede auf der Konferenz anschloss. So gab die Außenministerin nur eine ausweichende Antwort darauf, weswegen sie die nächste Präsidentin der UN-Generalversammlung werden will – anstelle der Diplomatin Helga Schmid, die eigentlich für dieses Amt vorgesehen war und sich seit Monaten darauf vorbereitete. Die Nominierung Baerbocks anstelle Schmidts hatte zu viel Kritik geführt.

Es gehe nicht um einzelne Personen, antwortete Baerbock darauf. Die Entscheidung sei von der Bundesregierung getroffen worden. Schmid gehöre „an allererster Stelle“ zu den besten Diplomatinnen Deutschlands und werde auch künftig „an führender Stelle weiterwirken“. Ihre eigene künftige Rolle sieht Baerbock nach eigenen Worten darin, „in Hinterzimmern“ Gespräche zu führen und „nicht die lautesten Reden“ zu halten. Das spiele vor allem bei den Vereinten Nationen und in der derzeitigen internationalen Lage eine Schlüsselrolle, um Vertrauen zu bilden.

Baerbock offenbar für Pistorius als Nachfolger

Eher unfreiwillig deutlich wirkte hingegen eine Aussage der Außenministerin über ihre mögliche Nachfolge. Im Kontext einer Frage über die Kritik an ihrer Haltung zum Nahostkrieg, die je nach politischem Lager als zu israelfreundlich oder nicht israelfreundlich genug gewertet wurde, sagte die Grünenpolitikerin: „Natürlich kriegt man am Ende Prügel von beiden Seiten“, wenn man eine differenzierte Haltung vertrete. 

Das führe dazu, dass die Rolle an der Spitze des Auswärtigen Amtes in den derzeitigen Koalitionsverhandlungen ebenso wie nach der Wahl 2021 nicht zu den begehrtesten gehöre. „Ich werbe trotzdem dafür“, sagte Baerbock, „auch beim Kollegen (Boris) Pistorius“. Über einen denkbaren Wechsel des Verteidigungsministers ins Auswärtige Amt war bereits zuvor spekuliert worden. Über ihre eigene Aussage zu Pistorius sagte die Grünenpolitikerin kurz darauf im Scherz: „Ich lösche das wieder.“