Energiewende: Sind 100 Prozent Erneuerbare möglich?
Fünf Kilometer nordöstlich von Cottbus in Brandenburg. 220 Millionen Tonnen Braunkohle wurden hier bis zum Jahr 2015 aus dem Boden geholt, um sie im nahe gelegenen Kraftwerk Jänschwalde zu verbrennen. Doch heute ist der ehemalige Tagebau kaum noch wiederzuerkennen. Das riesige Loch in der Erde wird seit einigen Jahren mit Wasser geflutet. Und nicht nur das: Auf dem künstlichen See entsteht die größte schwimmende Photovoltaikanlage Deutschlands.
Damit steht das Projekt in der Lausitz für den Umbau der deutschen Stromversorgung hin zu einem erneuerbaren System. Es soll der Wirtschaft den Weg bereiten in eine Welt, in der kein Kohlendioxid (CO2) mehr ausgestoßen wird: Bis 2030 peilt die Bundesregierung 80 Prozent Ökostrom an, fünf Jahre später soll der Stromsektor „überwiegend dekarbonisiert“ sein. Klimaneutral produzierter Strom soll dann dafür sorgen, dass auch alle anderen Sektoren auf Treibhausgase verzichten können.
Der grüne Strom steht am Anfang aller Versorgungsketten, auch in der Industrie, in Gebäuden und im Verkehr. Diese beruhen heutzutage noch vielfach auf fossilen Energien. Aber wie soll das gehen: ohne Kernkraft, Kohle, Öl und Erdgas auskommen?
Skepsis gegenüber erneuerbaren Energien
Tatsächlich gibt es bislang nur wenige Länder auf der Welt, die ihren Strombedarf vollständig aus Erneuerbaren decken: Albanien, Island, Norwegen, Bhutan, Nepal und Paraguay sind darunter. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie verfügen über die geographischen Voraussetzungen, ihren Strom nahezu vollständig aus Wasserkraft zu gewinnen. In Island kommt Strom aus Geothermie hinzu, also Erdwärme. Hierzulande hingegen ist das Potential für die Stromerzeugung aus Wasserkraft und Geothermie begrenzt – Solarparks und Windräder bieten sich deutlich mehr an.
Die Skepsis den erneuerbaren Energien gegenüber ist so alt wie die Energiewende selbst. Zu Beginn des Jahrtausends hatten viele Kritiker kaum mehr als ein paar Prozent Ökostrom im System für möglich gehalten. Die schwankende Stromproduktion der Erneuerbaren sei nicht grundlastfähig, hieß es, als die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000 mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) dafür sorgte, dass grüner Strom vorrangig abgenommen wird, und garantierte Vergütungssätze einführte. Irgendwann würde ein Stromsystem mit einem hohen Anteil Ökostrom zusammenbrechen, weil es nicht kontinuierlich Strom liefern könne.
Mittlerweile werden 58 Prozent des Bruttostromverbrauchs in Deutschland aus erneuerbaren Energien gedeckt, Tendenz weiter steigend. Ein Wert, von dem viele vor ein paar Jahren noch nicht zu träumen gewagt hatten. Das Stromsystem ist nach wie vor nicht zusammengebrochen. Dennoch äußern vereinzelte Ingenieure weiterhin die Sorge, die erneuerbaren Energien allein könnten „ein Stromnetz nie über 24 Stunden funktionsfähig erhalten“ und seien „regelungstechnisch nicht beherrschbar“. Was ist dran an diesen Sorgen, und wie könnte eine Vision für das deutsche Stromsystem der Zukunft aussehen?
Genügend Flächen vorhanden
Kathrin Goldammer gibt sich optimistisch. „Aus den Ingenieurwissenschaften heraus können wir sagen: Ja, 100 Prozent erneuerbare Energien sind in Deutschland möglich“, sagt die Leiterin des Reiner Lemoine Instituts (RLI) in Berlin. Sie forscht genau zu diesem Ziel. „Alle notwendigen Technologien – allen voran Windkraft, Photovoltaik, Speicher – sind vorhanden.“ Auch gebe es genügend geeignete Flächen für Windräder und Solarparks, um den deutschen Strombedarf vollständig zu decken, sagt die Wissenschaftlerin und verweist auf einen Rechner ihres Instituts. Das gelte selbst unter der Annahme, dass der Strombedarf in den kommenden Jahren drastisch steigen wird. „Auch ein System, in dem wir den Transportsektor, die Wärme und die deutschen Industrieprozesse elektrifizieren beziehungsweise mit grünen Molekülen ausstatten, ist machbar.“ Verschiedene Energiesystemstudien gehen davon aus, dass sich der Bruttostromverbrauch bis zum Jahr 2045 auf etwa 900 bis 1100 Terawattstunden verdoppeln könnte.
Größer sind da schon die Sorgen um die Versorgungssicherheit. In der klassischen Energiewelt wurde zwischen drei Kraftwerkstypen unterschieden: Grundlast, Mittellast und Spitzenlast. Braunkohlewerk und Kernkraftwerke liefen quasi rund um die Uhr (Grundlast). Steinkohlekraftwerke waren für die Mittellast zuständig, während Gaskraftwerke nur wenige Hundert Volllaststunden im Jahr erzielen konnten: Sie sprangen nur dann ein, wenn sie gebraucht wurden.
Der große Joker Flexibilität
Die neue Energiewelt kennt das nicht mehr – keine Grundlast, Mittellast oder Spitzenlast, nur noch erneuerbare Energien und Flexibilität. Kernkraftwerke sind schon heute vollständig abgeschaltet, aber auch Braun- und Steinkohlekraftwerke werden vom günstigeren Solar- und Windstrom zunehmend aus dem Markt gedrängt. Sie können in immer weniger Stunden im Jahr wettbewerbsfähig Strom erzeugen – ihre Volllaststunden sinken. Forscher gehen davon aus, dass diese Kraftwerke wegen der steigenden Preise im europäischen Emissionshandel in wenigen Jahren gar nicht mehr zum Zug kommen werden.
Bleibt die Flexibilität – der große Joker, der die Stromproduktion aus Erneuerbaren ergänzen und dafür sorgen soll, dass die Versorgungssicherheit rund um die Uhr gewahrt bleibt. Zwar ergänzen sich die im Sommer stärker ausgelasteten Solaranlagen sowie die im Winter höhere Windstromerzeugung saisonal gut. Allerdings ist der Stromverbrauch im Winter traditionell größer als im Sommer, weil die Menschen dann mehr heizen und mehr Lampen anschalten. Gaskraftwerke sollen deshalb vorwiegend im Winter flexibel Strom erzeugen. Im besten Fall werden diese irgendwann mit grünem Wasserstoff statt Erdgas betrieben.
Ein Szenario, welches die Beratungsinstitute Prognos und Consentec für die Denkfabrik Agora Energiewende entworfen haben, zeigt, wie im Jahr 2035 ein klimaneutrales Stromsystem aussehen könnte. Darin tragen die erneuerbaren Energien den überwältigenden Teil mit 89 Prozent zur Nettostromerzeugung bei, Wasserstoffkraftwerke decken den Rest ab mit 7 Prozent. Da Deutschland mehr Strom ins Ausland liefert, als es von dort bekommt, beträgt der Erneuerbarenanteil am Stromverbrauch als Nettoexporteur rechnerisch mehr als 100 Prozent. Weil es so viele Gaskraftwerke aktuell aber noch gar nicht gibt, plant die Bundesregierung, 12,5 Gigawatt Leistung auszuschreiben. Ein Kapazitätsmechanismus soll dafür sorgen, dass auch mittelfristig genügend flexible Stromproduzenten am Markt sind.
Im erwähnten Szenario gibt es im Jahr 2035 zwei unterschiedliche Arten von regelbaren Kraftwerken: Der eine Teil – etwa 20 Gigawatt – läuft durchschnittlich 3000 Stunden im Jahr. Das entspricht ungefähr der Auslastung vieler Gaskraftwerke heute. Ein zweiter Teil von Kraftwerken läuft hingegen nur sehr wenige Stunden im Jahr – sie sind sozusagen eine Versicherung gegen seltene Extremwetterereignisse. Während die erste Gruppe an Kraftwerken Wasserstoff verbrennt, könnte die zweite Gruppe auch Ammoniak nutzen, welches sich besser speichern und transportieren lässt als Wasserstoff.
Die Nachfrage muss mitmachen
Jetzt kommt der große Paradigmenwechsel: In einem System mit einem sehr hohen Anteil erneuerbarer Energien muss auch die Stromnachfrage flexibler werden, um den ständigen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage sicherzustellen. Das bedeutet: Haushalte und Unternehmen müssen den Strom möglichst dann verbrauchen, wenn er erzeugt wird.
Das bezieht sich vor allem auf die großen Verbraucher. Elektroautos zum Beispiel können in einem klimaneutralen System flexibel geladen werden, manche sogar in zwei Richtungen laden und somit als Stromspeicher agieren (Vehicle-to-Grid). Auch viele Wärmepumpen können sich flexibel verhalten. In Stunden mit viel Ökostromerzeugung können Heizstäbe oder Elektrodenkessel Nahwärme, Fernwärme sowie Wärme für die Industrie liefern (Power-to-Heat). Auch Elektrolyseure produzieren den grünen Wasserstoff idealerweise in den Stunden, in denen der Strom nicht anderweitig genutzt werden kann. Im Sommer ist das vorwiegend tagsüber, im Herbst und im Winter vor allem in Phasen mit starkem Wind.
Eine überragende Rolle spielen große und kleine Batteriespeicher sowie in kleinerem Ausmaß Pumpspeicherkraftwerke, um den Strombedarf flexibler zu gestalten. Zusammenfassend lässt sich sagen: Je flexibler Speicher und Nachfrager agieren, desto weniger Gaskraftwerke werden benötigt und desto näher rückt die Vision eines Stromsystems, welches zu 100 Prozent auf erneuerbaren Energien beruht.
Damit sich Elektroautos, Wärmepumpen und Heimspeicher tatsächlich flexibel verhalten können, werden sie mithilfe von intelligenten Stromzählern gesteuert. Dazu müssen die Netzbetreiber viel mehr über den Zustand ihrer Netze und der Verbrauchseinheiten wissen als heute. Eine intelligente Steuerung der Netze senkt auch den Investitionsbedarf. Nichtsdestotrotz erfordert das Stromsystem der Zukunft fast 50 Prozent längere Stromleitungen als heute – im Agora-Szenario etwa 50.000 Kilometer. Idealerweise wird dann noch das heutige Netz optimiert und verstärkt. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass bestehende Stromleitungen von 220 auf 380 Kilovolt Spannung umgerüstet werden, damit auf dem Weg weniger Strom „verloren“ geht. Eine andere Möglichkeit, Stromleitungen zu verstärken, ist die Verwendung von Hochtemperaturleiterseilen.
Stromnetz muss stabil bleiben
Außerdem spielt der Stromaustausch mit den europäischen Nachbarländern im klimaneutralen Stromsystem der Zukunft eine entscheidende Rolle. Denn neben regelbaren Kraftwerken, einer flexiblen Nachfrage und Stromspeichern kann auch das Ausland Flexibilität erbringen. Im Szenario von Agora wird Deutschland vom Jahr 2027 an wieder zum Nettoexporteur von Strom, auch aufgrund neuer Seekabel nach Norwegen und England.
Und wie sieht es aus mit den Sorgen, ein Stromsystem mit einem sehr hohen Anteil erneuerbarer Energien sei „regelungstechnisch nicht beherrschbar“? In der Tat müssen die Netzbetreiber nicht nur dafür sorgen, dass es genügend Kabel in ausreichender Qualität gibt, sondern auch dafür, dass der tägliche Betrieb läuft. Die Betreiber müssen sicherstellen, dass wirklich immer Strom ankommt, wenn er gebraucht wird.
Tatsächlich haben konventionelle Kraftwerke bislang einige Leistungen erbracht, die für die Netzstabilität notwendig sind. Je mehr von ihnen vom Netz gehen, desto dringender müssen diese Dienstleistungen anderweitig beschafft werden. Wie soll das gehen? Erstens: die Momentanreserve. Damit sind die rotierenden Massen der Synchrongeneratoren konventioneller Kraftwerke gemeint. Aktuell halten sie quasi automatisch die Frequenz im Stromnetz stabil, die stets bei 50 Hertz liegen muss. Das gilt selbst dann, wenn sich die Nachfrage sprunghaft ändert oder ein Kraftwerk ausfällt, und so lange, bis nach ein paar Sekunden die Regelleistung aktiviert wird.
Was fehlt noch?
Die Momentanreserve verschafft dem Stromnetz in kritischen Fällen also wertvolle Sekunden. In Zukunft sollen sich auch erneuerbare Energien an der Momentanreserve beteiligen. In dieser Rolle vorstellbar sind zum Beispiel Windräder, in denen sich auch Turbinen drehen – diese müssen jedoch mit speziellen Frequenzumrichtern ausgestattet sein. Auch könnte man die Zeit bis zur Aktivierung der Regelleistung verkürzen.
Zweitens ist die sogenannte Blindleistung unerlässlich, um das Stromnetz stabil zu halten. Genauer gesagt die Spannung, die notwendig ist, um Strom über große Entfernungen zu transportieren. Auch Blindleistung wird traditionell von den großen konventionellen Kraftwerken und deren Synchrongeneratoren bereitgestellt. Technische Alternativen in einem von Erneuerbaren geprägten Stromsystem können Netzbetriebsmittel wie rotierende Phasenschieber sein, die heute schon im Übertragungsnetz eingesetzt werden. Gerade erst hat etwa der Netzbetreiber Tennet einen solchen, 1000 Tonnen schweren Phasenschieber in einem Umspannwerk in Hessen verbaut.
Die technischen Voraussetzungen lassen sich also schaffen für ein Stromsystem mit sehr hohen Anteilen erneuerbarer Energien. Was fehlt noch? Für die Berliner Ingenieurin Goldammer ist dafür noch mehr zu tun. „Woran wir weiter dringend arbeiten müssen, ist der schnelle Ausbau der Netze und Erzeugungsanlagen“, sagt die Forscherin. „Außerdem fehlen die richtigen Anreize, um Batteriespeicher und weitere Flexibilitäten so einzubinden, dass sie dem System dienen.“ Dann könnte Deutschland tatsächlich irgendwann das erste Land der Welt sein, welches seinen Strombedarf überwiegend aus Sonnenstrom und Windstrom deckt. Auch die größte schwimmende Photovoltaikanlage Deutschlands in Brandenburg hilft dabei mit. Möglich ist das.