Ostukraine: Der russische Vormarsch zwingt zur Evakuierung dieser Stadt Pokrowsk

Die Bergbaustadt Pokrowsk mit ihren gut 55.000 Einwohnern galt einst als einer der sichersten Orte im Donbass. Ein Knotenpunkt für den Straßen- und Schienenverkehr. Hier konnten Korrespondenten im ersten Kriegsjahr bedenkenlos übernachten, denn die Frontlinie lag seinerzeit etwa 70 Kilometer entfernt.

Im August vor einem Jahr allerdings wurde bereit das Hotel „Druschba“ bei einem Raketenangriff getroffen, und die Reporter zogen weiter. Seinerzeit wurde die Stadt noch von Militärfahrzeugen Richtung Osten passiert, während Kranken- und Sanitätswagen nach Westen rollten. Heute stapeln sich Bibliotheksbücher auf der Straße und warten darauf, in einem Lastwagen abtransportiert zu werden – nach Kramatorsk, Slowjansk oder sonst wohin, Hauptsache nach Westen. Unweit der Bibliothek demontieren zwei Männer das Schild eines Supermarktes. Das moderne Magazin für Lebensmittel hat schon vor Tagen seinen Betrieb eingestellt. Auf dem Bahnhof wartet währenddessen ein Evakuierungszug auf seine Abfahrt. Menschen drängen sich auf dem Bahnsteig, sie wollen nicht länger warten, die Flucht ist der einzige, der letzte verbliebene Ausweg, scheint es

In Pokrowsk wird eingepackt, was mitgenommen werden soll und kann. Die russische Armee ist nur noch zehn Kilometer entfernt und so weit herangerückt, dass jederzeit mit Artillerie angegriffen werden kann, nachdem sich der Vormarsch nicht aufhalten ließ. Aus Angst vor dem Schlimmsten haben die ukrainischen Behörden den Menschen geraten, sich innerhalb der nächsten Tage in Sicherheit zu bringen. So sitzt die 33-jährige Maryna mit ihren drei Kindern Angelina, Maria und Oleksandra vor dem Bahnhof auf gepackten Koffern. Sie soll nach Riwne evakuiert werden, weit entfernt in der Westukraine, und sagt, sie habe keine andere Wahl, als den Ort zu verlassen, an dem sie und ihre Familie aufgewachsen sind. „Das Haus unseres Nachbarn wurde getroffen. In diesem Augenblick wurde mir endgültig klar, wie gefährlich es geworden ist. Wir mussten einfach weg.“

Maryna hat keine Zweifel, das Richtige tut, aber es sei nicht einfach, hier alles aufzugeben. Außerdem beunruhige es sie, dass viele Menschen sich noch nicht entschieden hätten, Pokrowsk zu verlassen. „Viele bleiben in ihren Wohnungen und wollen nicht wahrhaben, dass sie sterben können. Es ist alles viel zu unsicher, besonders wenn man Kinder hat.“ Sie weiß nicht, welches Los sie in Riwne erwartet, wo und wie sie und ihre Kinder als Vertriebene aufgenommen werden.

Im abfahrbereiten Zug ist es heiß, stickig und voll

Es fällt schwer über all das zu berichten, wenn sich an einem quälend heißen Sommertag bei 35 Grad am Nachmittag ein paar Hundert Menschen auf den Weg machen und ihrer Stadt den Rücken kehren. Sie alle sehen sich wegen eines allmählichen Zusammenbruchs an diesem Mittelabschnitt der Ostfront dazu gezwungen. Das Verhängnis begann mit dem Fall von Awdijiwka im Februar, ebenfalls ein Eisenbahnknotenpunkt. Seither konnten die russischen Streitkräfte ihre Dynamik aufrechterhalten. Ihr Vorrücken ist vor allem auf Wellen von Infanterie-Angriffen zurückzuführen, die durch schweren Beschuss der Artillerie unterstützt wurden, während die Ukrainer – so wie die Russen kurz nach Beginn des Krieges – Schwierigkeiten hatten, tiefe Verteidigungslinien zu errichten. Die Armee sei auf dem Rückzug zu desorganisiert gewesen, wird ihr vorgeworfen.

Im abfahrbereiten Zug ist es heiß, stickig und voll. Die Leute sitzen dicht an dicht in den Abteilen und warten. Ihr Leben ist in Koffern, Taschen und Rucksäcken verpackt, von denen einige zu schwer sind, als dass man sie ohne Hilfe tragen könnte. Viele wollen ihre Katzen mitnehmen, eine letzte Bindung an das zurückgelassene Zuhause. Der Krieg hat die Menschen zusammengeworfen und mutet Ihnen nun eine mindestens ganztägige Reise in einen Teil des Landes zu, den sie nicht kennen. Es ist unklar, ob sie jemals heimkehren.

Tetiana sagt, es habe sie zuletzt das Gefühl verfolgt, ihre Wohnung im dritten Stock eines Pokrowsker Wohnblocks sei zu hochgelegen, um dort noch sicher leben zu können. Sie sitzt neben einer verletzlich aussehenden 73-jährigen Frau namens Nina, die von ukrainischen Soldaten aus Kurachowe, einem Ort 20 Kilometer weiter südlich, gewaltsam evakuiert wurde, weil sie nicht gehen wollte. Nina gegenüber steht Vera aus Nowopawliwka, einem Dorf direkt an der Front, die gegangen ist, weil es – wie sie sagt – „unerträglich geworden ist“. Man habe gehofft, „dass es die Russen in dieser Gegend nicht schaffen werden, aber in den vergangenen, Wochen sind sie sehr nahe herangekommen. Es waren ständig Explosionen zu hören“.

Noch klingen die Kriegsgeräusche in Pokrowsk so, als kämen sie aus großer Entfernung, aber zu hören sind sie sehr wohl. Noch wirkt die Stadt belebt, viele Menschen sind auf den Straßen – werden sie bleiben oder gehen? Serhii Dobrjak, Leiter der Militärverwaltung, erklärt, seit dem 10. August hätten über 5.000 Menschen, darunter gut tausend Kinder, die Stadt verlassen, aber ein Großteil der Bevölkerung sei noch da. Was sicher auch damit zu tun hat, dass ein beschleunigter russischer Vormarsch diese Stadt, vor allem aber die Militärs überrascht hat.