Emmanuel Macron: Die Zäsur

Noch steht nicht fest, wer Frankreich demnächst regiert und ob das Land in absehbarer Zeit überhaupt eine handlungsfähige Regierung haben wird. Darüber wird erst in einer zweiten Wahlrunde am kommenden Sonntag entschieden. Aber sicher ist schon jetzt: Das Land erlebt einen historischen Moment. Der 30. Juni 2024 unterteilt die jüngere französische Geschichte, es gibt ein Vorher und ein Nachher.

Denn zum ersten Mal hat die Partei Marine Le Pens, der Rassemblement National (RN), eine Parlamentswahl gewonnen. Mehr noch, sie hat nicht nur gewonnen, sie hat triumphiert. Laut ersten Hochrechnungen erhalten der RN und seine Verbündeten rund 34 Prozent der Stimmen. Damit liegen sie deutlich vor der sogenannten Neuen Volksfront, einem Zusammenschluss fast aller linken Parteien (28 Prozent). Das Bündnis von Präsident Emmanuel Macron hingegen stürzt auf etwa 20 Prozent ab. 

Damit rückt in Reichweite, was noch vor vier Wochen undenkbar schien: Zum ersten Mal seit der Gründung der Fünften Republik 1958 könnte ein Vertreter der extremen Rechten Premierminister werden. Die Prozentzahlen sind nur bedingt aussagekräftig, denn das französische Mehrheitswahlrecht ist kompliziert. Aber laut ersten Projektionen könnte der RN tatsächlich in die Nähe einer absoluten Parlamentsmehrheit kommen. Käme es so, bliebe auch die europäische Politik davon nicht unberührt. Denn Frankreich ist nicht nur einer der größten und wichtigsten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Diese Union – gedacht als Absage an jeden Nationalismus – ist in gewisser Weise eine französische Erfindung. Eine nationalistische Regierung in Paris würde die EU daher fundamental erschüttern.

Macron hat den Rechten das Tor zur Macht geöffnet

Natürlich richten sich nun viele Fragen an Emmanuel Macron. Dass seine Partei diese Wahl nicht würde gewinnen können, war allen klar. Nur offensichtlich nicht ihm selbst. Hätte er das Parlament sonst aufgelöst? Die drei Parteien, die den Präsidenten bislang unterstützten, werden laut den Prognosen künftig höchstens noch mit 100 statt bislang mit 250 Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten sein. 

Nun gut, könnte man sagen. Macron hat seine eigenen Interessen zurückgestellt und macht den Weg frei für etwas Neues. Nichts sei republikanischer, so hat er selbst seine Entscheidung begründet, „als dem souveränen Volk das Wort zu erteilen“, also wählen zu lassen. In Deutschland haben manche diesen Schritt als vorbildlich empfunden und Olaf Scholz empfohlen, sich ein Beispiel daran zu nehmen. Aber nichts deutet darauf hin, dass Macron den Weg wirklich frei machen wollte – und will. Seinen eigenen Rücktritt hat er ausgeschlossen, als Präsident ist er noch bis 2027 gewählt. 

Dafür hat Macron in den vergangenen Wochen noch einmal die Gefahren beschworen, die vom „Aufstieg der Nationalisten, der Demagogen“ ausgingen. Nun hat er ihnen das Tor zur Macht geöffnet: Im neuen Parlament werden mehr Nationalisten und Extremisten vertreten sein als jemals zuvor. Macron hat das „Fieber“ und die „Unordnung“ beklagt, die Frankreich ergriffen hätten und viele Menschen zutiefst verunsicherten. Aber mit seiner plötzlichen Entscheidung hat er die Unsicherheit vergrößert und das Fieber weiter angefacht.