Disney: Die missionarische Traumfabrik

Die missionarische Traumfabrik – Seite 1

Am heutigen Dienstag wird im Olympiapark in München eine große Ausstellung zum 100. Gründungsjubiläum der Walt Disney Company eröffnet. Die Ausstellung läuft noch bis zum 3. September 2023. Wir nehmen sie zum Anlass, um grundsätzlicher über die Geschichte und Bedeutung des Comic-Hauses, Vergnügungsparkbetreibers und Filmstudios Disney nachzudenken.

I.

Zu
Beginn der Fünfzigerjahre, man schaltete in Westdeutschland gerade von „Wiederaufbau“ zu „Wirtschaftswunder“,
erreichten die Produkte aus dem Hause Walt Disney (das seinen Ursprung im Jahr 1923 hat, mit der damaligen Gründung der Disney Brothers Cartoon Studios) die jungen Menschen
in der Bundesrepublik als Teil einer US-amerikanischen Befreiungsfantasie, zu der
auch Amerika-Häuser, Rock ’n‘ Roll, Jeans und Western gehörten. Und wie den Rest
dieser liberalen Amerikanisierung so traf auch die Disney-Produkte zunächst der
Bannstrahl der konservativen Bürger und Bürgerinnen, der Lehrer und
Erzieherinnen, der postfaschistischen Hüter des gesunden deutschen
Volksempfindens.

Dabei waren diese Disney-Produkte sehr unterschiedlich. Da waren die
abendfüllenden Animationsfilme nach den großen Märchenstoffen wie
Schneewittchen und Cinderella, große Familienereignisse hier und dort; da
waren die anarchisch-wüsten Kurzfilme mit Donald Duck, der kleinbürgerlichen
Choleriker-Ente; da waren die Comic-Hefte der Micky Maus-Serie, heute legendär
wegen des „guten Zeichners“ Carl Barks mit den kongenialen Übersetzungen von
Dr. Erika Fuchs; da waren die Naturfilme wie Wunder der Prärie, gegen die
Biologie- wie Religionslehrer wetterten, weil sie die Tiere vermenschlichten
(so wie in den Comics die Menschen vertierlicht waren); da waren die populärwissenschaftlichen
Serien, die uns für Weltraumfahrt, Atomenergie und Automobilismus begeistern
sollten; und da war all das süße und derbe Spielzeug, das an die Seite desjenigen von
Steiff, Käthe Kruse und Märklin trat.

Dabei
war das alles gar nicht so neu in der deutschen Populärkultur. Die Micky Maus
war auch in diesem Land seit Anfang der Dreißigerjahre eine feste Größe. Ihre
Abenteuer wurden in den so betitelten Wunder-Büchern vertrieben, deutsche Fabriken stellten allerlei Produkte mit Verweis auf Disney-Figuren her, mit der amerikanischen Maus wurden
umgekehrt auch deutsche Produkte beworben, und Die drei kleinen Schweinchen liefen
als „Tonfilmwunder“ in den Kinos. Erst mit dem Kriegseintritt verschwanden die
Disney-Produkte aus den deutschen Läden, aber im Schlager wie bei Micky-Maus (Dajos Béla und sein Tanzorchester, 1930) lebte die Erinnerung noch fort. Was Disney selbst mit
den deutschen Nazis trieb, blieb eine eher dunkle Episode. Jüngst traf
man sich anlässlich einer Disney-Ausstellung in Genua, wo Experten der
Popgeschichte jedenfalls ein durchaus wohlwollendes, wenn nicht gar persönliches Verhältnis zwischen Walt Disney und Benito Mussolini untersuchten.

Ambivalenz
blieb die Leitmelodie. Die Figur der Micky Maus war so sehr in der deutschen Kultur verankert,
dass die Nazis sogar die Bezeichnung „Mickey Mouse“ für die 3. Staffel der Jagdgruppe 88 der Legion Condor tolerierten, deren Kampfflugzeuge – wie die der Gegenseite – mit einem Micky-Maus-Kopf geziert wurden. Allerdings war schon im Jahr 1930 der Film Micky im
Schützengraben
(The Barnard Battle)
, in dem französische Mäuse deutsche Katzen
bezwangen, von der deutschen Filmbewertungsstelle verboten worden.
Doch weniger die Zensur als vielmehr die strikten Devisenbeschränkungen machten
den Export der Disney-Produkte in die europäischen Kernländer schließlich unmöglich. Erst unter diesem Druck der
wegbrechenden Märkte entschloss man sich im Homeland dazu, zu tun, was andere
US-Medien- und Entertainment-Unternehmungen längst getan hatten, nämlich
sich der mehr oder weniger soften Propagandaproduktion gegen die Deutschen anzuschließen. Donald Duck trat in dem Film Der Fuehrer’s
Face
als Opfer und Gegenspieler der Nazis auf und erlebt den Alltag in der
faschistischen Rüstungsindustrie als Albtraum. Und Education for Death gab
ein ziemlich realistisches Bild vom deutschen Faschismus: „Little Hans“ wird da
zu bedingungslosem Gehorsam und zur blinden Opferbereitschaft erzogen.

Im
Jahr 1951 begann mit der Publikation des ersten bundesdeutschen Micky-Maus-Hefts nach dem Krieg das Neue Testament unserer Disney-Begleitung. Und die
Ambivalenz beherrschte auch in den Jahren um 1968 die Diskurse und
Alltagsgewohnheiten. Einerseits wurde der Disney-Konzern als Muster einer
kapitalistisch-imperialistischen Ausbeuter-Institution gebrandmarkt, Modell, ja
Karikatur von Kulturindustrie. Mit einer marxistischen Anleitung wie How to
Read Donald Duck
(im Jahr 1971 erschienen) lernte man, dass selbst die Comics des geliebten Carl Barks
nur als perfide Propaganda für die globale Herrschaft des Dollar zu verstehen
seien. Und Theodor W. Adorno erklärte uns, dass Donald auf der Leinwand und in
den Heftseiten seine Prügel nur einstecken musste, damit wir, das Publikum, uns
an die eigenen Entfremdungsprügel gewöhnen würden. Andererseits lagen in den Republikanischen
Clubs die Micky Maus-Hefte neben anderen revolutionären Schriften aus, in
dem Film Fantasia konnte man sich zwischen Psychedelischem, Kitsch und Pop-Art
ein neues Verständnis des Ästhetischen aneignen, und der Underground entdeckte,
wie viel seiner subversiven Techniken aus Disney-Vorbildern stammten. Es
war eben kompliziert, und Disney war beides: das Beste und das Schlimmste aus
der amerikanischen Popkultur.

II.

Es
ist eine Mischung aus Anpassungsfähigkeit und einem ideologisch-mythologischen
Kern, was Disney zu mehr als einer Traumfabrik unter anderen und zu mehr als
einem besonders cleveren Unternehmen der Popkultur machte. Disney verstand
(und versteht sich vielleicht immer noch) auch als missionarisches Unternehmen.
Man hat eine frohe Botschaft zu verkünden, man bedient sich dabei weniger der
abstrakten Texte als vielmehr einer Bild- und Mythenwelt, die sich immer wieder
trefflich mit den Bild- und Erzählelementen vor Ort zu immer neuen hybriden
Stoffen und Riten zusammenbinden lassen. Disneyfizierung erreicht nicht nur
die Köpfe, sondern auch die Seelen. Und neben den Märchen ließen sich alle die
Abenteuerfantasien disneyfizieren, die das bürgerliche Zeitalter
hervorgebracht hatte: 20.000 Meilen unter dem Meer, Zorro, Davy Crockett, Die Schatzinsel, …

Die Welt als kulturelle Beute des Amerikanischen

Das
Kernstück des Disneyanismus, natürlich, ist der American Way of Life. Die
Entstehung einer neuen Gesellschaft aus dem Geist der Rebellion, dem Geist der
Pioniere, dem Geist der demokratischen und ökonomischen Gemeinschaft. Genauer
gesagt: Disney stand für die Essenz der weißen, angelsächsischen,
protestantischen Familie mit zugleich traditionellen und progressiven
Vorstellungen und Rollenmodellen. Im heißen Herzen der Disney-Mythologie
steckte die industrielle Wiederverzauberung des Alltags, die Transformation
des Märchens aus Europa in die Fantasy aus der angelsächsischen Tradition, das Wunder als Antwort auf die
Trivialisierung des Fortschritts.

Beginnend mit dem enormen Erfolg von Schneewittchen
wurden die Märchen zugleich, was die Brutalitäten und Effekte anbelangt, entschärft,
sie wurden insofern manieristisch bearbeitet, als Nebenaspekte und
Nebenfiguren in den Vordergrund traten (weniger Schneewittchen selbst als
vielmehr die in verschiedene Charaktere differenzierten sieben Zwerge bleiben
im Gedächtnis) und sie wurden modernisiert. Man könnte das einen Universalisierungseffekt
nennen. Es kam nie auf die Reinheit des Amerikanismus an, sondern immer darauf, womit er sich verbinden ließ. Im Guten gesagt: Der Disneyanismus öffnet das
Amerikanische für den Rest der Welt. Im Nicht-so-Guten gesagt: Der
Disneyanismus macht die Welt zur kulturellen Beute des Amerikanischen.

Im
Gegensatz zu den Konkurrenten setzte Disney von Anbeginn an auf ein
multimediales Vermarktungsmodell. Und damit wuchs auch die Möglichkeit, mehrere Felder und mehrere
Erzählweisen miteinander zu verflechten. Animationsfilme und Comics auf der
einen Seite, auf der anderen mehr oder weniger lehrreiche Dokumentationen wie Die
Wüste lebt
(in Nachkriegsdeutschland ein großer Erfolg) und eine optimistische
Darstellung der Zukunft und ihrer Technologie wurden zu einem Dreiklang.

Ein
Bild der Gesellschaft, und sei es in Form des Zusammenlebens der drei
ikonischen Figuren Micky Maus, Goofy und Donald Duck: der clevere Gewinner,
der liebenswerte Trottel und der cholerische Verlierer.

Ein Bild der Natur, zum Ärger von Konservativen und Katholiken beseelt.

Und ein Bild der Technik: Auf Wunsch der damaligen US-Regierung produzierte Disney etwa im Jahr 1956 im Rahmen der Fernsehserie Disneyland die Doku Our Friend the Atom, die das Image der Atomenergie verbessern helfen sollte. Das deutsche Testimonial dafür war der medienaffine Professor Heinz
Haber, der damals für das „wissenschaftliche Weltbild“ warb und eine publizistische
Brücke zwischen den USA und Europa bildete; Haber trug dieses
Bild der freundlichen Technik auch in sein Geburtsland. Er schrieb auch das gleichnamige
Buch zum Film, das mit Disney-Bildern illustriert wurde. Habers anschauliche
Darstellung des Verlaufs einer nuklearen Kettenreaktion mithilfe von
Mausefallen und Tischtennisbällen wurde zu einem häufig nachgeahmten Klassiker:
Disney versprach neben der Modernisierung des Märchens die Demokratisierung des
Wissens. Und in den Mickey Mouse Clubs konnte man auch neue Formen der sozialen
Praxis erlernen: Hier hatten nicht mehr die „Führer“ das Sagen, hier ging es um
eine Erneuerung des Boy- (und Girl-) Scout-Geistes: gute Taten plus Konsum von
Disney-Produkten.

Verbunden
wurden die drei Grundbilder der Mission – Verzauberung,
demokratisch-kapitalistische Gemeinschaft und technologischer
Fortschrittsglaube – durch das spezielles Verfahren des Mickey-Mousings. Das heißt: Bewegtbilder der unterschiedlichsten Art wurden mit einer sprechenden
Musik unterlegt, die allem den gleichen optimistischen und auch wieder
ironischen Bewegungsdrang verpassten, ganz so als gehorchten Zeichentrickmäuse,
Wüstenschlangen und spaltbares Material ein und demselben inneren
Bewegungsdrang, und als hätte die so dramatisch zerbrochene Welt im
Disneyanismus einen neuen inneren Zusammenhang gefunden. Bei aller Ambivalenz lässt
sich wohl ohne Übertreibung sagen: Das Projekt der kapitalistischen Demokratie
in Westeuropa wäre ohne diesen Disneyanismus nicht so ohne Weiteres gelungen.

Das
hatte, wie man so sagt, auch seine Schattenseiten.

III.

Wenn
man nun also den Disney-Konzern und seinen missionarischen Expansionsdrang als ökonomisch grundierte Form einer Art
Parallelreligion ansieht, die weniger auf der Basis des Wortes als auf der des
Bildes verbreitet wird, so ist überdeutlich, dass der Mann und Unternehmensgründer Walt Disney selbst sich als der Prophet dieser Popreligion inszenierte. Er signierte alles, was aus seinem
Haus kam, vertrieb sein Bild in allen Kanälen und trat als gütig-fordernder Onkel Walt in den frühen Disney-Fernsehsendungen
auf. Onkel Walt hatte weiß der Himmel seine dunklen Seiten. Sie zeigten sich in
der Art seiner Führung, in der Weise, wie er die Arbeit seiner Mitarbeitenden für
sich requirierte und wie die großen Illusionen, in den Disneyland-Pilgerorten
wie in den Filmen, nicht nur durch perfekte Technik, sondern auch durch
Menschenausbeutung entstanden. Disney-Mitarbeitende auf allen hierarchischen
Ebenen mussten lernen, lächelnd zu leiden. Und Onkel Walt machte uns glauben,
dass er tatsächlich auch ein Schöpfer
in seinem Reich war, seine diesbezüglichen kreativen Fähigkeiten waren indes
sehr beschränkt.

Walt Disneys Genialität bestand darin, die Fantasien seiner
Angestellten in eine soziale Botschaft zu verwandeln, die so fluide und
vielseitig daherkam, dass fast niemand etwas dagegen haben konnte, von ein paar
religiösen Fanatikern und ein paar
kulturpessimistischen Sauertöpfen
abgesehen. Es steckte in Disneys Botschaften etwas, das war rassistisch,
sexistisch und nationalistisch, aber nicht mehr, als es in der
Mehrheitsgesellschaft und notabene ihrer als Kundschaft angepeilten Segmente
ohnehin Konsens war. Entwickelte sich die (US-amerikanische) Gesellschaft in eine
Richtung, entwickelte sich auch Disney dorthin; und bewegte sich umgekehrt Disney, bewegte sich zumeist auch die Gesellschaft.

Dass also Disney heute
zum Markenkern eine nette
Form der Diversität zählt,
ist kein Bruch, sondern die Fortsetzung dieses wechselseitigen
Anpassungsprozesses. Der Weg der
Diversifikation wurde symbolisch vor allem mit den typischen Disney-Prinzessinnenfiguren im Zeichentrick beschritten:
die erste indigene (Pocahontas, 1995),
die erste asiatische (Mulan, 1998), die erste schwarze Prinzessin (Küss den
Frosch
, 2009) und so weiter. Tatkräftiger und selbstbewusster wurden die Frauen auch, aber sie
blieben dennoch dem einen großen Ideal verhaftet: Glück ist die Verbindung von
sozialem Aufstieg und familiärer Ordnung. Die Kindfrau als (kluge) Bewahrerin
und Garantin eines Status quo ist die wahre Gottheit des Disneyanismus, die Männer
kümmern sich um das Materielle. Denn genauso wie der Rassismus der früheren
Tage kommt nun die Diversität als frohe Botschaft ohne Bewusstsein, dafür mit
umso mehr mythischer Erlösung
daher. Ambivalenz, wieder mal.

Disney ist sozialer Pragmatismus

Die Mission Disney hat also alles, was man für eine Religion braucht: eine frohe Botschaft, eine Ikonografie nebst einer Ursprungslegende, einen Gründervater und Propheten, eine gläubige Gemeinde. Fehlen noch zwei Dinge. Der Ritus und der
Pilgerort. Die Riten ergeben sich nicht zuletzt aus einer geschickten
Dramaturgie von Erwartung und Erfüllung: Disney-Projekte und -Produkte kommen
nie einfach auf den Markt. Sie werden zuvor prophezeit und angekündigt, und ihr Erscheinen hat die Aura einer Offenbarung (auch das hat der
Kapitalismus des 21. Jahrhunderts von Disney gelernt).

Der Pilgerort wiederum entstand
früh mit Disneyland, einem Themen- und Vergnügungspark. In Märchen, Utopie und Familienfeier
organisiert ist es ein Gnadenort, an dem man mindestens einmal in seinem Leben
mit der Familie gewesen sein muss. Diese Familie organisiert sich auf das
große Ereignis hin und zehrt im Anschluss daran. Wie jeder Pilgerort verlangt
auch Disneyland, später Disney World und Disneyland Paris das Opfer, das hier
schlicht in einer Geldsumme besteht, die in aller Regel die Budgetplanung einer
Durchschnittsfamilie mindestens an den Rand ihrer Belastbarkeit bringt. Aber
niemand darf sich in Disneyland als knauserig zeigen. Der gewöhnliche Disney-Konsum
und das Erlebnis der Pilgerreise werden miteinander verknüpft. In Filmen wie Jungle
Cruise
wird wiederum das Prinzip des Abenteuerparks zurück ins Kino übersetzt.
Und immer so weiter.

IV.

Disney
ist Erlösung, Disney ist sozialer Pragmatismus, Disney ist die Zukunft. Die
Botschaft hat Walt Disney selbst in eine sehr, sehr schlichte Aussage gebracht: „Morgen kann ein schönes
Zeitalter sein.“ Der Zukunftsoptimismus drückt sich in
Disneys Vergnügungsparks mit Weltraumsimulatoren in ewige Pionierfantasien aus. Aber die Disneyfizierung
reicht über den Bereich der Entertainment- und Freizeitindustrie weit hinaus.
So entstand etwa bei Orlando, ursprünglich Future World
getauft, eine Experimental Prototype Community of Tomorrow (kurz: Epcot), die vom Konzern als
Muster von „Einfallsreichtum und Fantasie der freien Marktwirtschaft“ angepriesen
wurde. Hier investierten die großen Konzerne von Bell/AT&T, Exxon bis General Motors in künstliche Lebenswelten und Bilder davon, wie sich das Leben in der
Zukunft in der Fantasie der Marktwirtschaft entwickeln würde. In echt.

Epcot
hat eine Art von kapitalistischer Dystopie in sich, die von der Kaste der imagineers (der Traum-Ingenieure der Disney-Welt) gelenkt wird und in der übrigens schon vor dem
digitalen Wandel Spiel und Arbeit, Realität und Fiktion, Bequemlichkeit und Überwachung
so ineinanderflossen, wie es heutzutage nur noch als Albtraum
wiedergegeben werden kann. In Epcot wurde alles aufgesogen, was Welterbe sein
konnte, unter anderem wurde ein Nachbau des Eiffelturms zum Wahrzeichen einer
kulinarischen Einrichtung, in der der echte (!) Paul Bocuse bei der Küchenarbeit zu
erleben war
. Deutschland war, natürlich, mit Schloss Neuschwanstein und
einem Fluss als Rhein-Nachbildung vertreten. Der damalige Manager Martin A.
Sklar erklärte das Wesen dieses Zukunftsbildes: „Viele Menschen haben kein
Vertrauen mehr in ihre Regierungen oder Industrien, aber immer noch in Micky
Maus.“

Dabei betreibt der Disney-Konzern seit Langem auch eine Form des land grabbing. Unter der Hand kaufte man in Florida
vordem brachliegendes oder landwirtschaftlich genutztes Terrain neben dem Magic Kingdom auf und
errichtete darauf Hotels, Golfplätze und wiederum
eine eigene Stadt mit eigener Infrastruktur und eigener Quasiautorität (gegen diese Form der Autonomie von staatlicher Kontrolle geht nun ausgerechnet der rechtskonservative Gouverneur Ron DeSantis vor). Disney, das ist eben nicht nur die frohe Botschaft vom familiären Glück
in superfreier Marktwirtschaft, es ist auch 1984 mit Zuckerguss.

V.

Der
Disney-Konzern hat sich über manche Krisen hinweg stets wieder neu formiert
und wirkt nach jedem Misserfolg größer und glamouröser als zuvor.
Mittlerweile hat man zwei weitere große Sinn- und Zeichensysteme integriert – das Star-Wars-Franchise und die Marvel-Superhelden – und einer inneren
Disneyfizierung unterworfen. Auch hier wird Globalisierung und Diversifikation
der Fantasien unter dem Mantel einer generellen Sauberkeit betrieben. Zu
der gehört auch ein beständiges Bearbeiten des eigenen
Erbes. Man macht unsichtbar, was nicht ganz ins Bild passt (zum Beispiel die
erwähnten propagandistischen Werke), man revidiert und manipuliert, damit die
frohe Botschaft nirgendwo auf Widerstand stoßen muss.

Doch dabei bleibt
gelegentlich die eigene Ambivalenz auf der Strecke, nicht nur die Kuheuter aus
dem ersten Mickey-Mouse-Film, die den amerikanischen Sittenhütern als obszön erschienen.
Dass die Bande der Krähen in Dumbo Der fliegende Elefant (1941) eine rassistische
Perfidie darstellten, war uns seinerzeit in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vielleicht nicht bewusst (schließlich
hatten wir noch nie etwas von den Jim-Crow-Gesetzen gehört). Aber andererseits
erschienen jungen Flegeln wie mir diese Krähen als einzig wirklich coole
Figuren in dem moralischen Spiel. Wie überhaupt in den Nebenfiguren der großen
Disney-Filme immer Platz war für die rebellischen Reste in den umfassenden
Anpassungs- und Mainstreaming-Erzählungen.

Und
es ist bei Disney immer auch Raum für nationale und kulturelle Hybride. Die Kernstücke der
Disney-Religion von der Fantasie in der Marktwirtschaft werden übernommen,
doch wie es sich für eine Missionsarbeit gehört, lässt man es auch zu, dass
lokale Mythen, Stile und Riten sich mit ihnen verbinden. Als im Jahr 1978 der
50. Geburtstag von Micky Maus gefeiert wurde, legte man in Deutschland bei der Schallplattenfirma Metronome
eine Serie zu den großen Disney-Erfolgsfilmen auf und wies stolz
darauf hin, dass die „Libretti“
der Filme vollkommen neu für das deutsche Publikum bearbeitet und mit Sprechern der damaligen Popularitätskurven – Lokalheiligen
sozusagen – besetzt wurden, wie Walter Giller, Lilo Pulver, Loriot, Johanna von
Koczian, Karlheinz Böhm
oder Henning Venske.

Umgekehrt zu einer solchen beständigen Eingemeindung achtet die
Reaktion stets darauf, dass nichts vom rechten Weg abkommt, so wie seinerzeit
etwa die CSU-nahe Wochenzeitung Bayernkurier sich erzürnte, als die
Panzerknacker in einem Micky-Maus-Heft einen „Chefideologen“ wählten, der sie
dazu anstiftete, „sich in den Besitz der Produktionsmittel zu setzen“.
Damit würde den „Kindern eine Phraseologie eingeimpft“,
die allerdings die deutsche Disney-Texterin Erika Fuchs gerade zu parodieren
gedachte. Und schließlich entwickelten sich, nachdem es in den USA selbst kaum
noch Nachschub gegeben hatte, in verschiedenen europäischen Ländern eigene Schulen der
Disney-Comics. Was Donald Duck und die seinen in den erfolgreichen Lustigen
Taschenbüchern
aus der Disney-Produktion hierzulande erleben, stammt nicht aus den USA, sondern aus Italien. Der Walt Disney Channel für das Streaming bietet
auch Trash wie die Realityshow um die Kardashians und Horror wie die Walking-Dead-Serie. Aber dabei gibt es nicht nur klare Grenzen (Familie und
Marktwirtschaft, wie gesagt), sondern natürlich auch die Handhabung der
Kindersicherung. 

Disney
schafft hier nicht nur die Globalisierung der Welterzählungen, sondern auch
die Bearbeitung des neuen Widerspruchs in den westlichen Gesellschaften: die
Entwicklung von wokem Respekt und Diversifikation und die Reaktion des
neokonservativen bis rechtspopulistischen Publikums. Disney ist nicht
Trump-Amerika, aber Disney hat Trump-Amerika auch nicht verhindert. Wieder kann
man Disneys frohe Botschaft sehr unterschiedlich betrachten: als Gradmesser und
sogar Vorreiter des antirassistischen, antisexistischen und
antidiktatorischen Weltbilds und als Bestätigung traditionalistischer,
konservativer und autoritärer Modelle. Es kommt nur darauf an, von welcher
Seite her man diesen Welttempel der industriellen Kultur betritt, und es kommt
darauf an, mit welchen Erwartungen man es tut.

Das Angebot ist heute um
etliches reichhaltiger als zu Onkel Walts Zeiten und mitunter – wie es sich für
frohe Botschaften gehört – durchaus selbstwidersprüchlich. Aber es funktioniert
nach wie vor nach dem Prinzip der Verzauberung des Trivialen (das man auch als Trivialisierung der Zauber dieser Welt ansehen kann). Und nach wie vor
locken die Pilgerstätten des Disneyanismus, wenn man es nicht nach Disneyworld
schafft, dann wenigstens zum Disney-Outlet der nächsten größeren Stadt, während
sich die Disney-Semantik vom Kinderzimmer her weit in den Alltag bewegt. Die frohe
Botschaft ist wichtiger denn je: Wer an Disney glaubt, der glaubt auch an sich
selbst.

Und umgekehrt. Propagiert wird ja nicht ein konkretes,
wirtschaftlich-politisches System (das würde dem Missionarischen auch schlecht
bekommen), propagiert wird das Subjekt, das ihm entspricht: der Disneyanische
Mensch (und sei es in Maus- und Entenform), schwankend zwischen dem Trost
suchenden Verlierer, der gleichwohl nie den Glauben verliert, und dem
vollendeten Epcot-Subjekt aus der Fantasie der imagineers. Die Sauberkeit der
Botschaft ist indes mehr als gefährdet. Es ist das Schicksal des
Missionarischen, dass es sich in der suggestiven Bilderwelt, in die es zieht,
auch verlieren kann. So bleibt die Spannung der Ambivalenz bestehen. Wo droht
die Expansion des Weltkonzerns Disney den Kern der Disneyanischen Botschaft zu
spalten? Wir werden sehen. Wir können nicht anders.