„Die Projektoren“ von Clemens Meyer: Der dickste Roman dieser Saison

Man sollte diesen Roman ohne Furcht betreten. Das könnte helfen, sonst geht man verloren. Nicht rettungslos, aber mit einem mehr als schwirrenden Kopf. Jedenfalls: der dickste Roman der Saison. Mit dem Pathos der epischen Geste hat der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer mehr als tausend Seiten in unsere brave deutsche Gegenwartsliteratur gewuchtet, neben fleißig recherchierte Mehrgenerationenschnurren und den neuesten Empfindungskleinkram aus Berlin.

Da steht es nun: ein wahres Gebirge aus Text, eine weite Landschaft, oft karstig und unwegbar, bisweilen durchquert man sie wie in einer Fieberfantasie, dann türmt sie sich fast unbezwingbar wieder auf, oft voller Blutspuren im Schnee, auf den Felsen, in der Steppe. Weit liegt diese Landschaft vor einem, und sie erzählt uns von der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, die im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien beginnt und bis ins Ostdeutschland der Neunziger und an die syrische Grenze der jüngsten Gegenwart führt.

Man macht sich Notizen und hakt sich zum Geleit bei den Fakten unter: Es gibt Novi Sad und Belgrad, es gibt die Vojvodina, den Berg Velebit, den Talkessel, es gibt Leipzig, Dortmund gibt es auch, es gibt Jugoslawien, dann gibt es Jugoslawien nicht mehr, es gibt die Nazis, die Partisanen und die Ustaša-Milizen, Tito, Milošević, Neonazis und den NSU, es gibt Flugzeuge und Bomben, Kriege und Tote. Es gibt die Kinos, und es gibt die Abenteuergeschichten von Karl May, man kann sie nicht übersehen, und zu denen kommen wir noch. Dies wäre zunächst das rohe Koordinatensystem dieses mehrdimensionalen Romans.

Falls es überhaupt ein Zentrum gibt, so ist es vielleicht ein Mann namens Cowboy, an dem die meisten der Erzählfäden zusammenlaufen, sich verknoten und wieder auflösen. Ein Lkw bringt ihn nach dem Weltkrieg zum Schäfer in die Berge, ein Verbannter mit rotem Halstuch, einst ein junger jugoslawischer Partisan im Zweiten Weltkrieg, nun ein von der Einsamkeit geadelter Einzelgänger, ein Fremder im Gebirge. Er wird uns oft begegnen, das Buch kehrt immer wieder zurück zu seinem Leben. Wir sehen ihn als Kind, das nach seinen Eltern sucht, in den Trümmern der Stadt Novi Sad um 1941, eine Suche, die mit Sätzen wie Granateneinschlägen beendet wird: „Kein Pudding. Keine Mutter. Kein Haus.“ Wir treffen Cowboy Anfang der Sechziger als Nebendarsteller in Karl-May-Verfilmungen. Später verfasst Cowboy in Deutschland Westerngroschenhefte in einer leeren, nahezu kafkaesk beleuchteten Behörde und denkt an seine große Liebe, eine Frau namens Negosava. Er erlebt den Balkankrieg, als alter Mann fährt er in den Irak. Wir folgen nicht nur seinem Leben, wir folgen seinen zerfetzten Erinnerungen, Gespinste eines traumatisierten Menschen. Es sind Wachträume aus den vergangenen Kriegen, von einer Gefängnisinsel, den Versehrungen. Nie ist Cowboy ganz in der Gegenwart, immer tobt die Vergangenheit in ihm. Sein Leben besteht aus zersplitterten Szenen und Landstrichen, die sich überblenden, Erinnerungswellen, die einem eigenen Gezeitenkalender folgen.

In Cowboy verwirklicht sich das poetische Prinzip, der Montagecharakter des gesamten Romans, der seine Szenen ständig überblendet, durch die Zeiten, Szenen und Orte fließt. Cowboy ist ein Komparse der Zeitläufte und Epochenbrüche. Er sah Faschismus, Sozialismus und Kapitalismus und kehrt immer wieder zurück ins Kino, ins „Bioskop“, an die Orte des Trosts in diesem Schlachtengemälde: zu Johnny Weissmüller und seinem Tarzan und zu Buster Keaton, der einst so ungerührt auf die Katastrophen des Alltags blickte wie nun Clemens Meyer auf die eines Jahrhunderts. Meyer betreibt dabei bloß einen drastischeren Darstellungsaufwand, in hoher Dichte pro Erzählmeter. Er selbst hat in einigen Vorabinterviews mitgeteilt, der Roman sei leicht zu lesen, worüber er vielleicht selbst lachen muss. Manche Teile bestehen aus rhythmisch pochender Prosa, in denen Augenblicke anschwellen, Sturzbäche aus Hypotaxen, syntaktische Kaventsmänner. Nicht selten navigiert Meyer sie über eine ganze Seite. Es ist ein Schreiben, das bisweilen wirkt, als sei es auch mit seiner eigenen Selbstbehauptung beschäftigt, eine expressionistische Imitation der Kamera und des Kinos, in dessen Dunkelheit sich der Roman so oft aufhält. So gleitet er durch die qualmenden Städte, schwenkt zu den feuchten Mänteln der Soldaten, ihrem Schweigen und Rauchen, ihren frierenden Händen, dem tödlichen Klacken der Gewehre, den Leichen unterm Eis in Novi Sad, den geschmolzenen Gesichtern in einem Bombenkrater auf dem Balkan oder zu dem Schlägerjungen, der in Leipzig auf einem dampfenden Heizungsrohr um sein Leben bangt. Meyer erzählt auf eine Weise, als könne man die Tiefenschichten menschlicher Grausamkeit nur erkennen, wenn man sie lange genug ansieht. In anderen Passagen hat sich der harte, lakonische Ernüchterungsstil konserviert, für den der Autor in seinen Erzählbänden zu Recht so bewundert wurde, in Die Nacht, die Lichter, in Die stillen Trabanten, auch in seinem später erfolgreich verfilmten Debütroman Als wir träumten.

Durch das Gewimmel der Geschichte läuft ein Gewimmel an Figuren, oft ohne Namen. Sie heißen, wie aus dem dichterischen Jenseits der Groschenhefte Entflohene eben heißen – „die Alte“ oder „der Mann mit dem Mantel“, „der Rothaarige“, „der untersetzte Mann“ oder „der Mann mit dem Bart“ oder „der silberbärtige Hüter des Brunnens“. Vielleicht auch, weil im Krieg die Namen verloren gehen oder weil sie in Wahrheit Gestalten sind aus düsteren Märchen, nach denen der Roman zuweilen klingt, wenn sein erzählerischer Puls langsamer wird: Es war einmal ein Junge. Es war einmal ein Junge. Hunderte Seiten, die man rauschhaft liest, selbst wenn man nicht jedes Detail, jede Binnenverrätselung und Vorahnung, jede deutungsbedürftige Anspielung entschlüsseln mag, da man sonst in den Tiefen der Wikipedia verloren ginge. Meyers Roman ist von einer Requisitenwut, einem enzyklopädischen Eifer beseelt, den man vielleicht aus Herman Melvilles Moby Dick kennt, wo mit größter Präzision Wissen über Harpunen, Wale und Schiffe hingebreitet wurde als gesamte Signatur eines Zeitalters. In seine Satzkaskaden flicht Meyer Zitate aus der Kriegsliteratur ein, von Ernst Jünger, Alexander Tišma und etlichen mehr. Manchmal singt er Verse als ahnungsvolle Refrains des Schreckens ins Buch, wie in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz: „Der stille Hahn geht durch die Stadt, er pickt und pickt …“ Die Projektoren ist zweifellos ein literarisch hochgebildeter Roman, und an etlichen Stellen ist diese vielgestaltige Überwältigungsprosa meisterhaft gelungen. Allerdings gerät er auch immer an den Rand einer Bibliotheksfantasie, wenn Meyer mit dem literarischen Kosmos von Karl May die Geschichte grundiert, dessen Werktitel und Abenteuermythen diesen Roman wie Leitmotive durchziehen und dessen Figuren in den Projektoren ein seltsames Eigenleben führen. Ständig steht der Hadschi mit Turban in der Weltgeschichte der Romanrealität herum wie ein stammelnder Forrest Gump und sucht seinen „Sidhi“ (also Old Shatterhand). Eine andere May-Figur (Mohamed Quimbo ben Quimbo) näht in der ostdeutschen Stadt Z. Trachten für radikale Ariergruppen, während das restliche Romanpersonal von Karl May besessen zu sein scheint – sowohl Cowboy, ein glühender May-Verehrer, als auch der Leipziger Nazi Georg. Dessen weinerlicher Größenwahn treibt ihn im Jahr 1991 in den Balkankrieg, an die Seite der kroatischen Neofaschisten, eine der brutalsten, traurigsten und großartigsten Passagen. Karl May ist der steinerne Gast in jedem Kapitel, manche gehören nur ihm: eins über einen May-Kongress im Jemen, das Meyer als absurdes Kasperletheater aufführt, eins über die Irrenanstalt des Dr. Güntz, wo „der Hochstapler“ May selbst eingesessen haben soll, Meyer erstellt eine Liste mit knapp 300 Sätzen zu Winnetou und dichtet im Leben von Lex Barker herum, dem Darsteller des Old Shatterhand. Manches davon ist ganz lustig, manches bloß verwirrend, andere Passagen sind wie Erschöpfungspausen, wie Momente des friedlichen Schwachsinns. Wieder andere erzeugen den überschaubaren Reiz von Verwechslungskomödien. Aber die kleine Frage, die sich aus dem Pulverdampf erhebt, ist, wozu Meyer solchen lexikalischen, tricksterhaften und durchaus gekonnten formalen Aufwand betreibt, um Karl May mit dem grandiosen Rest seines Romans derart ausführlich kurzzuschließen. Vielleicht ist’s ein Jux oder ironische sächsische Traditionspflege. Oder Meyer benutzt die Dauerpräsenz von May als Analogie von eher kleiner metaliterarischer Erkenntnis: dass ein Schriftsteller nicht an den Orten des Geschehens sein muss, um davon zu erzählen. Karl May war nicht im Wilden Westen, Clemens Meyer in keinem der Kriege auf jugoslawischem Boden. Dass in Friedenszeiten in den May-Filmen da, wo Deutsche real gemordet hatten, Cowboys und Indianer mit Platzpatronen um sich schossen, mag man für eine Art historische Ironie halten und den Einbruch von Mays Personal in die Romanwirklichkeit von Meyer für einen deutlich überinstrumentierten Erzählwitz. Aber schon gut. Weitere Fragen sind ein Fall für Exegeten, das Unterholz der Verweise zwischen May und Meyer wird fürderhin etliche Doktorarbeiten alimentieren. Man darf hier auch für den Moment brav die Waffen strecken und sich weiter an der kontrollierten Uferlosigkeit erfreuen, die in der auf Ökonomie dressierten Gegenwartsliteratur so selten geworden ist, ebenso wie der Wille zur erzählerischen Komplexität. Man muss den Roman deshalb nicht gleich aus Überforderung zum Meisterwerk erklären. „Der Roman, wie ihn die Moderne versteht“, sagt der Vater von Cowboy einmal, „ist ein Monolith, ein Chaos aus Stimmen.“ Und ja: Dieser Roman, wie man ihn verstehen kann, ist beides. Mehr noch: Er ist eine Zumutung. Schrecklich bisweilen. Jedoch häufiger eine, der man sich furchtlos staunend ergibt.