„Deutschstunde“ von Cem Kaya setzt hinaus Schock und Pop im Gorki-Theater

Gut, dass gewarnt wird. Achtung, heißt es, während das Saallicht gedimmt wird, stroboskopische Effekte! Und so beginnt die zweistündige Performance mit einpeitschender Technomusik, heftigen Lichteffekten und schnellen Bildern von elend aussehenden Geflüchteten an den europäischen Grenzen. Zeitgleich wachsen an den Bühnenecken zwei überdimensionale Frontexpolizisten als aufblasbare Winkemänner empor. Cem Kayas Reihe Deutschstunde mit dem Untertitel Pop, Pein und Paragraphen eröffnet die Saison im Berliner Maxim Gorki Theater.

Der preisgekrönte Filmemacher, der mit dem Dokumentarfilm Aşk, Mark ve Ölüm über die Musikkultur der türkeistämmigen Migrant*innen zuletzt den Grimme-Preis in diesem Jahr erhielt, erzählt später beiläufig auf der Bühne, dass er an einem neuen Dokumentarfilm arbeitet.

Mitgebracht hat er also teils absurde, teils in Vergessenheit geratene Fernsehbilder und historische Aufnahmen aus seiner derzeitigen Recherche, die aktueller nicht sein könnte. Ist der 47-Jährige etwa ein Visionär und hat die hysterische Migrationsdebatte 2024 vorausgesehen? Vielleicht. Aber mehr noch: Die Debatten, das wird schnell klar, wiederholen sich – seit Jahrzehnten.

Asyldebatte reloaded

So beginnt der Abend mit dem Fall Cemal Kemal Altun. Trotz seines anerkannten Asylantrags drohte ihm 1983 die Auslieferung in die Türkei. Die damalige Bundesregierung wollte es sich mit den türkischen Generälen nicht verscherzen. Wohl wissend, dass dem jungen Linken dort mindestens Haft und Folter, wenn nicht sogar die Todesstrafe drohte. Fernsehbilder zeigen den ernst dreinblickenden 23-Jährigen in einem Gerichtssaal des Berliner Oberverwaltungsgerichts, wenige Minuten später stürzt er sich vor laufenden Kameras aus dem Fenster. Posthum wurde ihm dann doch Asyl gewährt, erzählt Kaya nach diesen Bildern und muss bitter auflachen.

Die Ergänzung zu Kayas Deutschlanderzählung kommt vom Stargast Ekim Acun alias Şokopop. Der 36-jährige Künstler studierte in London Kommunikation und analysiert vor allem die säkular geprägte Türkei der 80er und 90er Jahre mit Boulevardzeitungsseiten und Archivaufnahmen. Für Türkeistämmige ist sein YouTube-Kanal eine Institution, für Nicht-Türkisch-Sprechende eine Entdeckung. Er beginnt mit dem Jahr, in dem Altun den Freitod in Berlin wählt, 1983. Für die Türkei das Jahr ein Aufbruch.

Die frisch gewählte Mitte-rechts-Regierung fördert den Konsumrausch im Land und lässt so die blutige Geschichte des Landes verblassen. Weiter geht es dann wieder mit Deutschland: Die bekannten rechtsextremen Attentate und Anschläge der jüngeren Geschichte wie Mölln und die Einlassungen Kayas zu der sich verschärfenden politischen Diskussion um Ausländer und sogenannte „Scheinasylanten“ lassen erahnen, dass die heutigen heftigen Diskussionen um Migrationspolitik auf fruchtbarem Boden gedeihen.

Doch bevor Kaya dieser Hysterie per Teufelsaustreibung zumindest filmisch ein Ende setzt, schließt sich der erzählerische Kreis mit der Ermordung von Talat Paşa an der Hardenbergstraße in Berlin, unweit des Todesortes von Altun. 1918 floh Talat Paşa, einer der Hauptorganisatoren des Völkermords an den Armeniern, nach Berlin, 1921 wurde er vom Mitglied eines armenischen Geheimkommandos assassiniert. Trotz eines Gesuchs hatten ihn die deutschen Behörden nicht ausgeliefert. Übrigens: Am 3. Oktober folgt die nächste „Deutschstunde“.

Pop, Pein, Paragraphen Konzept & Video: Cem Kaya Maxim Gorki Theater, Berlin