Der Atomausstieg hat ein Nachspiel
Der Name ist Programm: „Habeck-Akten“. Der Bundestag soll nicht die Energiepolitik der Regierung im Allgemeinen prüfen. Auch nicht die Sinnhaftigkeit des Atomausstiegs an sich. Die CDU/CSU-Fraktion will vielmehr einen Untersuchungsausschuss zu der Frage, wie der grüne Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck und seine Vertrauten 2022 zu der Entscheidung gelangten, dass die Atomkraft in Deutschland trotz der Energiekrise infolge des Ukrainekriegs verzichtbar sei.
„Die uns vorliegenden Informationen drängen die Schlussfolgerung auf, dass die Bundesregierung in einer entscheidenden Frage unserer nationalen Energiesicherheit nicht zum Wohle Deutschlands, sondern ausschließlich nach der Logik grüner Parteipolitik entschieden hat“, schrieb Unionsfraktionschef Friedrich Merz am Montag in einem Brief an die 195 Abgeordneten seiner Fraktion. Kommende Woche will die Fraktion den Untersuchungsausschuss im Bundestag beschließen. Den dafür nötigen Stimmanteil, 25 Prozent, hat sie.
Die Zeichen zwischen Schwarz und Grün stehen auf Konfrontation – was mit Blick auf den näher rückenden Bundestagswahlkampf interessant wird. In den vergangenen Monaten kamen aus der Union unterschiedliche Signale, wie sie zu den Grünen steht. Zuerst bezeichnete CDU-Chef Friedrich Merz die Grünen als politischen „Hauptgegner“. Zuletzt stimmte er seine Partei dagegen darauf ein, dass es auch zu einer Koalition mit den Grünen kommen könnte. Im Zuge des Untersuchungsausschusses dürfte die Stimmung wieder feindseliger werden.
Abhängigkeit vom russischen Gas
Die Chance, den womöglich nächsten Kanzlerkandidaten der Grünen über Monate in einem Ausschuss vorzuführen, wollte sich die Union nicht entgehen lassen, trotz der von grüner Seite ausgesandten Warnungen, dass man dann aber auch darüber sprechen müsse, wie die Union Deutschland überhaupt erst so abhängig von russischem Gas gemacht habe. „Die Reaktion der Grünen bestätigt uns: Sie werfen munter weiter Nebelkerzen. Die Nervosität ist offenbar groß“, sagte Fraktionsvize Jens Spahn der F.A.Z. „Der Untersuchungsausschuss wird sachlich, aber konsequent aufklären, ob die Bürger Frau Lemke und Herrn Habeck vertrauen können.“ Steffi Lemke ist die grüne Bundesumweltministerin.
Wieder aufgekommen ist die Debatte über die Atomkraft durch das Magazin „Cicero“, das erfolgreich auf Einblick in die Schriftwechsel geklagt hatte, die es im Frühjahr 2022 im Wirtschafts- und im Umweltministerium zur möglichen Weiternutzung der Atomkraft gab. Mitarbeiter aus der Fachebene hatten empfohlen, dies zu prüfen, Habeck und Lemke hielten einen Weiterbetrieb damals nicht für nötig. Am Ende entschied Kanzler Olaf Scholz (SPD), dass die Anlagen bis Mitte April 2023 weiterliefen. Lemke sprach am Dienstag im Deutschlandfunk von „einer der transparentesten Entscheidungen, die im Jahr 22 getroffen worden ist“, Spahn dagegen von einer „grünen Märchenwelt, scheibchenweise präsentiert“.
Über die Frage, ob und wie der Atomausstieg Deutschland geschadet hat, gibt es unterschiedliche Ansichten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schreibt: „Die Abschaltung von Kernkraftwerken war seit langem geplant und mitnichten ein relevanter Treiber der Strompreise.“ Tatsächlich gab es nach dem Atom-Aus keine Kostensprünge, im Gegenteil sind die Strompreise gefallen. Das habe aber an den stark gesunkenen Gaspreisen gelegen, die den Strompreis nach dem Merit-Order-Prinzip maßgeblich bestimmen, gibt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm zu bedenken.
Sie ist überzeugt: Wären zusätzlich die längst abgeschriebenen, günstig Strom produzierenden Kernkraftwerke am Netz geblieben, wäre der Preis noch weiter gesunken. Laut den Berechnungen der Professorin für Volkswirtschaft in Nürnberg könnten die Strompreise um 8 bis 12 Prozent geringer sein, wenn die Kernkraftwerke noch am Netz wären. „Zu behaupten, dass der Effekt marginal wäre, ist Schönrednerei“, sagte Grimm der F.A.Z. Es sei ein Fehler gewesen, „abgeschriebene Kernkraftwerke in der Energiekrise einfach dranzugeben und gleichzeitig Milliardensubventionen für die Strompreisstabilisierung in Aussicht zu stellen, etwa über einen staatlich bezuschussten Industriestrompreis“.
Kritik an Habecks Arbeitsweise kommt auch vom Koalitionspartner FDP. Sie entzündet sich am Kohleausstieg. Dieser ist gesetzlich bis 2038 terminiert, soll laut Koalitionsvertrag aber „idealerweise“ bis 2030 erfolgen. Für das Rheinische Revier wurde das zwischen dem Bund, dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Energiekonzern RWE so vereinbart, für die ostdeutschen Reviere hingegen noch nicht.
Die Liberalen werfen dem Minister vor, die gesetzlich vorgegebene Überprüfung der Kohleausstiegsfolgen zu verschleppen. „Bis heute weigert sich Robert Habeck, den Kohleausstieg wissenschaftlich überprüfen zu lassen. Damit verstößt er gegen geltendes Recht, denn die Überprüfung hätte bereits im August 2022 stattfinden müssen“, sagt Michael Kruse, der energiepolitische Sprecher der FDP-Fraktion.
Überprüfung erst im Frühjahr 2025 geplant
„Wie soll man von den Menschen in diesem Land die Einhaltung der Gesetze verlangen, wenn sich der Wirtschaftsminister selbst aussucht, an welche Gesetze er sich zu halten gedenkt?“ Der verzögerte Bericht müsse umgehend vorgelegt werden. Tatsächlich verlangt das – 2020 von der großen Koalition beschlossene – Kohleverstromungsbeendigungsgesetz, dass erstmals zum 15. August 2022 „die Auswirkungen der Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung auf die Versorgungssicherheit, (…) auf die Aufrechterhaltung der Wärmeversorgung und auf die Strompreise“ analysiert werden müssen.
Das aber ist nicht erfolgt, wie Habecks parlamentarischer Staatssekretär Michael Kellner (Grüne) den Bundestagsausschüssen für Wirtschaft sowie für Klimaschutz und Energie am Dienstag mitteilte. In einem Brief, der der F.A.Z. vorliegt, kündigt Kellner die erste Überprüfung erst für das Frühjahr 2025 an. Er begründet dies mit der Energiekrise im Berichtsjahr 2022, mit den Arbeiten an der Strategie für den Bau neuer Gaskraftwerke sowie mit den Notifizierungen für Beihilfen zum Kohleausstieg. „All diese Punkte sollten berücksichtigt werden, damit der Bericht nicht hinter die Realität zurückfällt“, so Kellner an die Abgeordneten. „Ich hoffe, dass Sie dieses Vorgehen nachvollziehen können.“ Auf wie viel Verständnis er damit außerhalb seiner Fraktion trifft, ist fraglich.