Damaskus: Stadt jener erloschenen Lichter

ارفع راسك فوق، انت سوري حر

Wenn es in diesen Tagen einen Satz gibt, den man in Syrien kennen sollte, dann ist es nicht etwa „Hallo, wie geht’s“ (marhaba, keyfak), „Vielen Dank“ (schukran ktir) oder „Ich heiße …“ (ismi), sondern ein Vers, der in etwa so ausgesprochen wird: Irfa rasak fooq, inta suuri hor – „Kopf hoch, du bist ein freier Syrer“.

Ergänzt man Trommeln, Streicher und eine eingängige Melodie, wie es Revolutionäre vor zwölf Jahren taten, dann hat man den Soundtrack einer Stadt, vielleicht einer ganzen Nation im Freudentaumel. Seit Baschar al-Assads Sturz am 8. Dezember schallt das Lied aus gefühlt jeder Damaszener Straße, jeder Vorstadtwohnung, aus jedem Auto. Es ist in Musik gegossene Euphorie und wohl auch eine Selbstvergewisserung, dass tatsächlich eingetreten ist, was eingetreten ist: das Ende einer 54-jährigen Diktatur. Der Schlächter ist weg, geflohen, jahrzehntelang inhaftierte politische Gefangene wurden befreit, und die Syrerinnen und Syrer – endlich frei? Kann das wirklich sein?

Zumindest singt es der Großvater seiner kleinen Enkelin. Die alte Dame krächzt es im Auto. Studienfreunde, über ein Jahrzehnt in alle Welt zerstreut, erkennen einander plötzlich auf der Straße, fallen sich in die Arme, halten dabei ihre Tränen zurück, oder auch nicht. Die Eismacher im legendären Bakdash stampfen zu dem Lied ihr Buza, eine hinreißend zähe, süße, weiße Masse mit geraspelten Pistazien darüber. Der Wäscheverkäufer ruft dazu Sonderangebote aus: „Weil wir Assad los sind, legen wir noch ein Paar Unterhosen gratis drauf!“ Zumindest in diesen Tagen ist es wirklich wahr.

Viel ist über Damaskus geschrieben worden, eine der ältesten Städte der Welt, und die vielleicht am längsten durchgehend besiedelte Stadt. Als Rom gegründet wurde, waren erste Schriften über Damaskus bereits hundert Jahre alt. Zentrale Geschichten des Alten und Neuen Testaments spielen dort: Abrahams Geburt. Maria und Josef sollen im angrenzenden Gebirge Zuflucht gefunden haben. Und am Fuß des Qasyun-Berges soll Kain seinen jüngeren Bruder Abel erschlagen haben.

Womöglich existierte Damaskus schon immer auf zwei Weisen, die ineinanderfließen: die gelebte, vergängliche Realität, und die für die Ewigkeit geschaffene, in Geschichten, Gedichte, Mythen und Reiseberichten festgehaltene Erzählung. Der andalusische Reisende Ibn Dschubair etwa schrieb 1184: „Bei Allah, diejenigen sprachen wahr, die sagten: Wenn es das Paradies auf Erden gibt, dann gehört Damaskus ohne Zweifel dazu; und wenn das Paradies im Himmel liegt, dann ist Damaskus sein irdisches Gegenstück.“

Solche Erzählungen wurden zum Stoff von Reiseführern, die unzählige Touristen ins Land brachten – bis 2011 in Syrien eine Revolution ausbrach und die Hauptstadt zum Machtzentrum eines dreizehn Jahre andauernden Bürgerkriegs wurde, der über 600.000 Menschen das Leben kostete, mehrere Millionen ins Ausland trieb und nahezu alle Verbleibenden, laut UN rund 90 Prozent, in Armut zurückließ.

2011 ist also auch das Jahr, in dem die letzten Reiseführer veröffentlicht wurden, danach gab es über Syrien nichts Gutes mehr zu sagen und schon gar nichts, was irgendwen dahin locken würde. Nur noch Schreckensmeldungen, Tod, Krieg, Folter, Hunger, Dürre, Erdbeben. Und schließlich sprach niemand mehr über das Land und seine Menschen, so sehr gewöhnte sich die Welt an ihr Leid. Man könnte auch sagen: Sie wurden im Stich gelassen, bis sie sich Ende letzten Jahres, zu aller Überraschung, aus nahezu eigener Kraft und nahezu gewaltfrei des Systems entledigten, das sie fast zugrunde gerichtet hatte.

Seither klafft auf den Assad-Postern und Bannern, die das Land übersäten, anstelle seines Gesichts eine mahnende Lücke. Und es fielen Mauern. Foltergefängnisse und Kontrollposten wurden geräumt, die Schergen, Folterer, Henker: einfach weg. Die Grenzen ins Land: einfach offen. Nach dem 8. Dezember konnte, wer wollte, einen Flug nach Libanon oder Jordanien buchen und mit einem Taxi nach Syrien fahren, wo zumindest in den ersten Tagen niemand nach einem Reisepass verlangte oder Geheimdienstdaten prüfte, und das ausgeblutete Damaskus füllte und füllte sich mit nicht mehr nur den regionalen Dialekten der Binnenflüchtlinge, sondern mit Sprachen aus aller Welt. Am 7. Januar wurde sogar der vierzehn Jahre stillgelegte internationale Flugbetrieb wieder aufgenommen.


Damaskus: Das Porträt des einstigen Tyrannen wurde von den meisten Bannern gerissen, durchschossen oder weggebrannt.

Das Porträt des einstigen Tyrannen wurde von den meisten Bannern gerissen, durchschossen oder weggebrannt.

Es hatte etwas Surreales, sich in den Tagen nach Weihnachten in Beirut in ein Taxi zu setzen, abends über die schneebedeckten Berge an der libanesisch-syrischen Grenze zu fahren, und auf syrischer Seite im Dunkeln die Checkpoints zu passieren, an denen statt der berüchtigten Regime-Wachtposten nun bärtige Männer im Tarnanzug ins Auto leuchten, teilweise vermummt und schwer bewaffnet. Aber sie grüßen nicht nur am ersten, sondern auch zweiten, dritten, vierten und fünften Checkpoint freundlich und entschuldigen sich für die Unannehmlichkeiten. Keine Schikanen, keine Schmiergeldforderungen, bloß „Willkommen“, Winken, Nächster.

Der erste Eindruck ist fast zu gut, wären da, sowohl auf der libanesischen Seite als auch an der südlichen Stadtgrenze von Damaskus, nicht all die zerstörten Wohnhäuser. Manche sind nur noch fensterlose Gerippe, andere zur Hälfte eingesackt, wieder andere nicht mehr als Steinhaufen. Und wäre da nicht diese beklemmend schwarze Nacht. Für eine Straßenbeleuchtung fehlt nach wie vor Strom, und so müssen die Autoscheinwerfer einen Weg durch die Trümmer und Schlaglöcher leuchten, während die Achse ächzt, bis wieder geräumte Straßen kommen und ein paar andere einsame Lichter aufscheinen.

Am nächsten Morgen vertreibt das routiniert-geschäftige Treiben verstörende Gedanken und Bilder. Der Muezzin ruft, die Märkte der staubgrau- bis sandsteinfarbenen Stadt füllen sich mit prallen Orangen, Äpfeln, Kakis, Esskastanien und Haushaltswaren. Autos, Motorräder und Menschen drücken sich mit wenigen Millimetern Abstand aneinander vorbei, alles raucht, und die Stadt hüllt sich in eine Abgaswolke, die bis auf den Qasyun-Berg zieht und das Wimmelbild in ein sanftes, diffuses Licht setzt.

Fehlen nur noch die berühmten Jasminblüten, der Duft Damaszener Rosen. Beides kann man aber nur destilliert in goldverzierten Flakons kaufen. Wer im Winter ankommt, muss erstmal durch den scharfen Dunst der verrosteten, verbeulten Dieselfahrzeuge, die andernorts längst ausrangiert oder zu Oldtimern erklärt worden wären, hier aber ihre allerallerletzten Runden drehen müssen, und das wie durch ein Wunder auch schaffen, wie Rädchen einer abgenutzten, alten Spieluhr.

Den Stoff, der sie am Laufen hält, gibt es am Straßenrand in transparenten Plastikflaschen. So wie der Diesel im Licht schimmert, könnte man ihn für Raps- oder Sonnenblumenöl halten, spätestens seit der Ölkrise 2019 aber ist er flüssiges Gold, das auch kleine, runde, schwarze Kaminöfen befeuert, sobja genannt. Sie halten jene Familien warm, die es sich leisten können, ihr Einkommen zu verheizen. Die Nächte kühlen hier bis auf null Grad ab.

Von der Kälte, dem Smog und den Trümmern abgesehen, muss man auch nach Jahren des Krieges anerkennen, wie schön Damaskus noch ist, vor allem der historische Kern, ein Oval von anderthalb Kilometern Länge und einem Kilometer Breite. Würden die zersprungenen Bodenplatten und eiligen Motorradfahrer einen nicht zwingen, ständig auf seinen Schritt zu achten, könnte man sich gar nicht sattsehen an allem, was über einem ist: an den Käfigen mit den Kanarienvögeln und Sittichen, den hölzernen Fensterläden und Wandmosaiken. Den Zitrusbäumen! Den Drillingsblumen. Den mittelalterlichen Erkern. Den Palmen mit ihren riesigen Palmwedeln. Das Mittelmeer ist nur 350 Kilometer entfernt.