Christlich Demokratische Union: Wie Friedrich Merz den Wahlkampf von Angela Merkel kopiert
Für die Opposition war die Sache klar. Deutschland galt allenthalben als das kranke Land Europas, Journalisten diagnostizierten den „Abstieg eines Superstars“, die Regierung wirkte abgewirtschaftet und orientierungslos. Nun galt es, dem Wahlvolk endlich die ganze Wahrheit zu sagen, offen und schonungslos. Geringverdiener würden höhere Beiträge zur Krankenkasse bezahlen müssen, Wohlhabende durch geringere Steuersätze zum Ankurbeln der Konjunktur motiviert werden, alle zusammen mit einem Aufschlag auf die Mehrwertsteuer für die Kosten dieser Radikalreform aufkommen. Nur wer vor der Wahl nichts beschönige, könne das Land hinterher erfolgreich aus der Krise führen, lautete das Credo.
Die Frau, die so dachte und redete, hieß Angela Merkel. Ihr Ruf nach einer Wirtschaftswende richtete sich gegen einen SPD-Kanzler namens Gerhard Schröder, dessen ziemlich weitreichende Arbeitsmarktreformen die damalige Oppositionschefin als viel zu schlappe Reförmchen diskreditierte. Unausgesprochen ging es auch um die Auflösung des „Reformstaus“, die der CDU-Kanzler Helmut Kohl nach verbreiteter Ansicht in 16 Jahren Regierungszeit hinterlassen hatte – und der jetzt dazu beitrug, dass die rot-grünen Nachfolger so sehr ins Straucheln kamen.
Heute ist es ausgerechnet Friedrich Merz, ihr ewiger Rivale und Nach-Nach-Nachfolger im Parteivorsitz, der es mit dem Konzept aus dem fernen Jahr 2005 noch einmal probieren will. Auch er reagiert damit auf Versäumnisse der eigenen Partei, diesmal während der 16-jährigen Kanzlerinnenschaft Merkels, und die auch daraus resultierenden Schwierigkeiten der aktuellen Regierung, diesmal der Ampelkoalition.
Spielraum für soziale Wohltaten begrenzen
Auf dem Parteitag, der am Montag in Berlin beginnt, will Merz ein neues Grundsatzprogramm beschließen lassen. Darin spricht sich die Partei unter anderem dafür aus, „dass die Lebensarbeitszeit für diejenigen, die arbeiten können, steigen muss und folglich die Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung gekoppelt wird“. Außerdem will er gemeinsam mit seinem Generalsekretär Carsten Linnemann das inzwischen umbenannte Bürgergeld wieder in die Schröder’sche Grundsicherung samt Sanktionsregime zurückverwandeln, den Spielraum für soziale Wohltaten will er durch Steuersenkungen begrenzen. Die Idee aus dem vorigen Jahr, dafür Spitzenverdiener auch mit höheren Sätzen zu belasten, hat er inzwischen allerdings fallen gelassen. Ausgerechnet Merz, der Katholik, eifert dem protestantischen Verzichtsethos der einstigen Kanzlerkandidatin Merkel nach.
Es ist ein Spiel mit hohem Risiko. Schließlich wäre Merkels sicher geglaubter Einzug ins Kanzleramt seinerzeit fast an ihrem Wahlkampf der Zumutungen gescheitert: Gerade mal um einen Prozentpunkt lagen die Unionsparteien, denen man einen haushohen Sieg vorausgesagt hatte, am Ende noch vor Schröders SPD. Geschickt nutzte Merkel die Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten, um unter dem Vorwand angeblicher Kompromisszwänge in den gesellschaftlichen Mainstream zurückzurudern – und in die sozialstaatlichen Traditionen eines Konrad Adenauer oder Helmut Kohl, dessen ewigen Sozialminister Norbert Blüm sie auf ihrem Leipziger Reformparteitag 2003 so brutal bloßgestellt hatte. Der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering machte die Abkehr von den Plänen zur Bedingung für eine Koalition. Merkel kam nie wieder darauf zurück. Auf ein höheres Rentenalter und eine höhere Mehrwertsteuer einigten sich die beiden Nüchternen trotzdem.
Merz haderte 16 Jahre lang mit der angeblichen „Sozialdemokratisierung“, die Merkels Rückwärtsrolle aus Sicht ihrer innerparteilichen Kritiker bedeutete. Seit er Parteichef ist, greift er die Reformvorschläge von einst nicht mehr auf. Über die Steuererklärung auf dem Bierdeckel, die er in Leipzig einst in letzter Gemeinsamkeit mit Merkel entwickelt hatte, sei die Zeit hinweggegangen, signalisierte er. Und von der Idee, dass alle Erwerbstätigen unabhängig vom Einkommen denselben Beitrag in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen sollten, ist sowieso keine Rede mehr.
Aber auch die Radikalität der neuen Reformvorschläge kennt Grenzen. Merkel hatte einst die Parole von Wahrheit und Klarheit ausgegeben. Nach der vorausgegangen Bundestagswahl hatte sie gegen Rot-Grün einen Untersuchungsausschuss zu Wahlkampflügen angestrengt, weil die Regierung angeblich unangenehme Wahrheiten vor der Abstimmung verheimlicht habe. In der Konsequenz glaubte sie, dem Wahlvolk diesmal die zu erwartenden Zumutungen in aller Konsequenz vorrechnen zu sollen.
Schäuble warnte vor unrealistischen Forderungen
So weit geht Merz bei Weitem nicht. Nicht bloß, dass er den Leuten für die Klimawende nichts zumuten will, den schnellen Abschied von der Gasheizung ebenso wenig wie vom Verbrennungsmotor. Mehr Hilfen für die Ukraine, mehr Geld für Bundeswehr, geringere Unternehmensteuern, eine Deckelung der Sozialbeiträge auf 40 Prozent, außerdem das Einhalten der Schuldenbremse und eine langsame Abkehr vom verbliebenen Solidaritätszuschlag, dazu noch die vielfältigen Ausgabenwünsche einzelner Fachpolitiker im Bundestag: Wie das alles unter dem Strich aufgehen soll, das dekliniert er anders als seinerzeit Merkel nicht bis auf den letzten Euro durch.
Das Bundesfinanzministerium hatte erst im Februar vorgerechnet, dass die CDU-Vorschläge insgesamt eine Haushaltslücke von 40 Milliarden Euro pro Jahr reißen würden. Ganz unparteiisch kalkulierte der freidemokratische Ressortchef Christian Lindner dabei nicht. Schließlich ist für die FDP die Merz-CDU derzeit die härteste parteipolitische Konkurrenz, und auch Lindner selbst vertritt bei passender Gelegenheit die These, dass sich Steuersenkungen am Ende durch Wirtschaftswachstum selbst finanzierten.
Allerdings blieb Merz’ fehlender Mut auch innerhalb der Partei zuletzt nicht unwidersprochen. Es war gerade sein langjähriger Freund und Förderer Wolfgang Schäuble, der kurz vor seinem Tod vor unrealistischen Forderungen warnte. Vor knapp einem halben Jahr, nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts, meldete er sich in der Sondersitzung der Unionsfraktion zu Wort. Er erzählte eine nur scheinbar ferne Geschichte, die ein halbes Jahrhundert zurückliegt, aus dem Jahr 1972. Damals zog Schäuble erstmals in den Bundestag ein, und der vormalige Finanzminister Franz Josef Strauß ermahnte die Abgeordneten, keine unfinanzierbaren Forderungen zu stellen. Die Botschaft war klar: So sollten die Unionsparteien, fand Schäuble, auch in ihrer neuerlichen Oppositionsphase verfahren.
Und noch etwa merkte Schäuble in seiner postum erschienenen Autobiographie an: Es sei absehbar gewesen, „dass die Liberalisierungseuphorie des Leipziger Parteitags 2003 der CDU auf die Füße fallen könnte“, Merkel habe seinerzeit schon den wenig schmeichelhaften Ruf einer zweiten Margaret Thatcher genossen. Mit Sorge habe er beobachtet, „dass die Partei sozialpolitische Themen eher stiefmütterlich behandelte“. Und auch Merz’ Konzept einer Bierdeckel-Steuer habe ihn nicht erfreut, so Schäuble. „Ich hatte durch genügend Anläufe zu Steuerreformplänen eine gewisse Vorstellung davon, wie schwierig das mit dem Bierdeckel werden könnte.“
Fokus auf der arbeitenden Mitte
Fremd sind Merz solche Erkenntnisse nicht, auch deshalb kommt er auf seine Steuerpläne seinerzeit nicht mehr zurück. Und er fokussiert sein Wirtschafts- und Sozialprogramm stärker auf die arbeitende Mitte, mit gelegentlichen Spitzen gegen den Kapitalismusbegriff der Liberalen. So kritisierte er die von der FDP vorangetriebene Aktienrente als „Hedgefonds-Methode“ – ausgerechnet er als früherer Deutschland-Aufsichtsrat des Vermögensverwalters Blackrock, dessen Fonds gerne für eine aktienbasierte Altersvorsorge gekauft werden. Und im neuen Grundsatzprogramm steht das Thema Sicherheit ganz oben, nach innen wie nach außen, samt Debatten über Leitkultur und deutschen Islam. Das Wirtschaftskapitel beginnt erst in Zeile 1353 – von 2212 Zeilen, die der Programmentwurf insgesamt umfasst.
Mag Merz auch in den Inhalten weicher sein als einst Merkel, in den Methoden gab er sich zunächst härter. Während die Oppositionsführerin von damals die Regierung in zähe Verhandlungen über die Hartz-Reformen verstrickte, stimmte sie am Ende trotzdem zu. Das war schon zwischen 2000 und 2002 ein Konfliktthema zwischen den beiden gewesen, als Merkel nur Parteichefin und Merz noch Fraktionschef war: Der Sauerländer glaubte im Sommer 2000, er könne Schröders große Steuersenkung über den Bundesrat blockieren. Das endete in einer Blamage, weil sich die Parteifreunde aus klammen Bundesländern vom Kanzler ihren Widerstand abkaufen ließen.
Ganz logisch war es schon damals nicht, eine große Steuersenkung in ferner Zukunft zu fordern und dafür eine kleine Steuersenkung in der Gegenwart zu verhindern, bloß weil man der Regierung den Erfolg nicht gönnt. Ganz ähnlich verfuhr Merz diesmal mit dem Wachstumschancengesetz der Ampelregierung, gegen das auch die Bundesländer zunächst aus finanziellem Eigeninteresse opponierten. Doch zum großen Showdown ließ er es diesmal klugerweise nicht kommen, die Sache wurde am Ende recht geräuschlos beigelegt gegen ein paar Zugeständnisse an die Landwirtschaft.
Scholz setzt auf einen Last-Minute-Effekt
Auch in anderen Finanzfragen erweisen sich die Länder als unsichere Kantonisten. Während Merz auf Bundesebene gegen die Tricks wettert, mit denen die Ampelregierung die Schuldenbremse umgeht, wollen die CDU-Ministerpräsidenten finanzschwacher Länder die Bremse lieber lösen. Oppositionspolitik werde im Bundestag gemacht und nicht im Rathaus von Berlin, schimpfte Merz deshalb schon mal. In diesem Spiel hat er allerdings gute Karten: Für eine Verfassungsänderung bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Anders als bei der Steuerreform genügt hier ein Kai Wegner nicht, um die Strategie des Oppositionsführers zunichtezumachen.
Am Ende freut sich in Berlin vor allem einer, wenn der Merz-Wahlkampf 2025 zum Remake der Merkel-Kampagne von 2005 wird: Olaf Scholz. Die Passage des CDU-Programms zum Rentenalter registrierte er mit Wohlgefallen, auch deshalb platzierte er vor dem Parteitag der Konkurrenz schon mal die Nachricht, dass es so etwas mit ihm nicht geben werde. Und er beruhigt sich mit dem Blick auf die Sympathiewerte des Oppositionsführers in den Umfragen, die ähnlich schlecht ausfallen wie einst für die Frau aus Ostdeutschland.
In der Einsamkeit der Wahlkabine stimmten dann doch erstaunlich viele wieder für Schröder, weil sie Merkel das Kanzleramt am Ende doch nicht zutrauten. Auf diesen Last-Minute-Effekt setzt auch Scholz. Wahlforscher wie Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen oder Forsa-Chef Manfred Güllner bestätigen ihn darin – und weisen darauf hin, dass die Umfragewerte der Unionsparteien trotz allen Ampelverdrusses noch immer hinter Merkels Wahlergebnissen von zuletzt 32,9 Prozent zurückbleiben. Entschieden ist damit freilich noch nichts.
In einem Vielparteiensystem gilt mehr denn je: Man kann mit einem guten Wahlergebnis in der Opposition bleiben wie Helmut Kohl 1976. Und man kann mit einem schlechten Wahlergebnis doch noch Kanzlerin werden wie Angela Merkel 2005.