„Chinatown“: Die ganze Ungerechtigkeit welcher Welt
Am Tag nachdem der Film Chinatown
am 20. Juni 1974 in den US-amerikanischen Kinos angelaufen war, schrieb Rex Reed in seiner Kolumne in der New York Daily News, dieser Film sei „so
groß und spannend und unterhaltsam, dass in vielen Jahren, wenn wir einmal
zurückblicken werden auf die wirklich wichtigen Filme der Siebzigerjahre, Chinatown
wahrscheinlich der sein wird, an den wir die liebevollsten Erinnerungen haben
werden“. Der Kolumnist, Hollywoodstar-Interviewer und Schriftsteller Reed,
könnte man hier einwenden, war allerdings auch ein sehr begabter Schwärmer.
Sein noch ein bisschen erfolgreicherer Kollege Tom Wolfe hatte bereits 1973 in
seinem Reader The New Journalism ein Interview von Reed mit Ava Gardner
mit einem interessanten literarischen Vergleich vorgestellt: Reed, so Wolfe,
schreibe sich selbst in Texte hinein auf eine Weise, wie es der Funktion von Nick
Carraway in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby entspreche. Carraway
ist der Erzähler in Fitzgeralds Roman und eine völlige Nebenfigur: Carraway
blickt liebevoll, aber halt von schräg unten auf den mysteriösen Protagonisten
Jay Gatsby. Er schwärmt von ihm.
Mit dieser Erzählhaltung, von sehr
weit schräg unten schwärmend, hätte man früher wohl auf Chinatown
geblickt bei einem Anlass wie einem runden Geburtstag des Films. Täte man das
heute so, würde man Rex Reed weitgehend recht geben, nur ungebrochen liebevoll ist die Erinnerung nicht: Selbst aus dem vielleicht
großartigsten Jahrzehnt des US-amerikanischen Films, dem New Hollywood der Siebzigerjahre, ragt Chinatown
als Kunstwerk bis heute heraus. Die Videos, in denen YouTuber weiter darüber
diskutieren, ob Chinatown womöglich das beste Drehbuch aller Zeiten
hatte, das perfekte Skript, sind Legion.
Das eigentlich Interessante und
Bedenkliche an Chinatown für die Gegenwart aber ist, dass er geradezu
idealtypisch in heutige Diskussionen über ältere Kunstwerke, ihr Zustandekommen
und das außerkünstlerische Verhalten der beteiligten Kunstschaffenden passt.
Kunst wird ja seit einigen Jahren verstärkt im Rückblick befragt danach, ob
ihre Inhalte oder Ausdrucksweisen heute noch als akzeptabel gelten oder
Menschen verletzen könnten; ob sie umgekehrt unter dem
Eindruck des vermeintlichen Cancel-Zeitgeistes heute noch so gemacht werden könnte oder würde; und ob die zum Teil erst viel
später bekannt gewordenen oder zumindest heute neu betrachteten Missetaten der Schöpfer von einst für groß gehaltenen Kunstwerken diese
Kunstwerke rückwirkend beschmutzen, sie gar hinfällig machen.
Schon wegen zweier Schlüsselszenen
in Chinatown, in denen Gewalt gegen eine Frau ausgeübt wird, könnte man
den Film heute per se für problematisch halten. Und noch mehr könnte man es mit
dem Wissen um das reale Gebaren gegenüber Frauen damals und vor allem
später derjenigen Männer, die den Film gemacht haben: des Regisseurs Roman
Polański, des Drehbuchautors Robert Towne, des Hauptdarstellers Jack Nicholson,
des Produzenten Robert Evans. Nach heutigen Kriterien waren und sind sie, in
unterschiedlicher Abstufung: böse Männer mit im Privaten, aber in Memoiren und
Zeitzeugenberichten ausgebreitetem problematischen Sozialverhalten gegenüber
Frauen. Und in Chinatown spielt überhaupt nur eine Frau eine wichtige
Rolle, Faye Dunaway als Darstellerin einer Figur, die verzweifelt versucht,
nicht weiter das Opfer zu sein, zu dem ein spezieller Mann sie gemacht hat, die
übermächtige Vaterfigur.
Die US-Kulturjournalistin Claire
Dederer hat genau diese Fragen, mit denen Kunstwerke der Vergangenheit heute
befragt werden (können), und genau Roman Polański zum Ausgangspunkt ihres im
vergangenen Jahr erschienenen Sachbuchs Monsters: A Fan’s Dilemma (auf
Deutsch Genie oder Monster: Von der Schwierigkeit, Künstler und Werk zu
trennen) gemacht. Für ein eigentlich anderes Buchprojekt hatte Dederer
lange zuvor noch einmal alle Filme Polańskis gesehen, zu dessen Schaffen
Filme gehören, die man in der Zeit ihrer Entstehung allgemein für Meisterwerke hielt, neben Chinatown vor allem Rosemaries
Baby (1968) und Der Pianist (2002). Bereits im Jahr 2017 hatte
Dederer in einem Essay in der Paris Review dargelegt, dass sie beim
Betrachten der Polański-Filme eingeschüchtert gewesen sei von der „Ungeheuerlichkeit“
des Regisseurs, seiner Monsterhaftigkeit: „Sie war monumental, wie der
Grand Canyon. Und trotzdem. Als ich seine Filme anschaute, war deren Schönheit
eine andere Art von Monument, undurchlässig für seine Missetaten.“
Eigentlich unerträglich alles
Roman Polański ist
Holocaustüberlebender und musste als Gatte im Jahr 1969 etwas ertragen, was
eigentlich unerträglich ist: Seine Ehefrau Sharon Tate und ihr gemeinsames ungeborenes Kind
wurden von Mitgliedern der Manson-Sekte ermordet.
Und Roman Polański hat
im Jahr 1977, drei Jahre nach dem Kinostart von Chinatown, einem damals
13-jährigen Mädchen namens Samantha Gailey nach deren Aussagen in Los Angeles –
im Haus von Jack Nicholson (der nicht anwesend war) – Champagner und Pillen
eingeflößt, sie zu Nacktaufnahmen im Pool überredet und sie anschließend vergewaltigt.
Polański wurde damals von der
Polizei in Gewahrsam genommen. In einer außergerichtlichen Vereinbarung hat
er eingestanden, sich des Verbrechens „widerrechtlichen
Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen“ schuldig gemacht zu haben –
in keinem denkbaren Rechtsverständnis, nicht 1977 und nicht 2024, ist Sex mit
einer 13-Jährigen kein Verbrechen (und allenfalls später eine Frage der
Verjährungsfristen). Polański hat sich durch Flucht aus den USA einer Anklage
entzogen, er lebt seither in Frankreich; alle Auslieferungsanträge der
US-Justiz auch an die Schweiz und Polen bei Reisen Polańskis dorthin blieben erfolglos.
Roman Polański ist nie bestraft worden für das, was er getan hat. Und es gibt weitere Anschuldigungen: Im kommenden Jahr soll in den USA ein Zivilprozess wegen eines anderen Vergewaltigungsvorwurfs einer anderen Frau gegen Polański beginnen, der soll die Tat im Jahr 1973 begangen haben. Eine weitere Frau warf Polański vor fünf Jahren vor, er habe sie 1975 vergewaltigt. 2010 beschuldigte eine noch weitere Frau Polański, sie in den Achtzigerjahren vergewaltigt zu haben, sie sei zum Zeitpunkt der vermeintlichen Tat 16 Jahre alt gewesen. Und 2017 folgte ein weiterer Vergewaltigungsvorwurf, diese Frau sagte, sie sei 1972 Opfer von Polański geworden, sie sei damals 15 Jahre alt gewesen. Die Fülle und Schwere der Anschuldigungen Roman Polański sind wahrlich monströs.
Samantha Gailey – heute Geimer – hat im
Jahr 2013 ihre Memoiren veröffentlicht. Deren Titel The Girl. A Life in the
Shadow of Roman Polański enthält bereits die niederschmetternde Erkenntnis,
dass die öffentliche Wahrnehmung des ganzen Lebens eines ansonsten unbekannten
weiblichen Verbrechensopfers überschattet sein kann von der Bekanntheit eines
männlichen Täters. Das Opfer bleibt in dieser Perspektive immer weiter das
Mädchen, dessen Schicksal an eine Gewalttat gekettet bleibt. Zugleich hat
Geimer in Interviews – im vergangenen Jahr sogar in einem mit der Ehefrau
Polańskis, Emmanuelle Seigner – betont, dass sie Polański nichts mehr vorwerfe.
Sie sagte, es sei eine „schreckliche Bürde“ für sie, immerzu
wiederholen zu müssen, dass die Vergewaltigung „keine große Sache“
für sie gewesen sei und ihr unmittelbar nach dem Geschehen nicht einmal klar gewesen sei, dass dies ein
Verbrechen gewesen sei: „Mir ging es gut, mir geht es immer noch gut.“
Wenn ein mutmaßliches Opfer einem mutmaßlichen
Täter vergibt, ist damit dann alles gut? Nicht nur zwischen diesen beiden,
sondern auch für die Öffentlichkeit, selbst wenn die dieses Vergeben womöglich
nicht verstehen, gar anstößig finden könnte? Was ist das Vergeben eines
mutmaßlichen Opfers wert, wenn der mutmaßliche Täter nie strafrechtlich zur
Konsequenz gezogen wurde? Ist das künstlerische Schaffen eines einst Teilgeständigen
wie Polański, wenn es durchs Vergeben des Opfers einer Straftat nicht einmal
mehr vom Künstler getrennt werden müsste, automatisch rehabilitiert? Oder ist
die ganze Diskussion eine große, falsch moralisierende Schimäre, und wer
Skrupel beim Betrachten von Kunstwerken hat, egal aus welchen Gründen, soll
sich halt ein anderes Hobby zulegen als Filmegucken – oder sich verdammt noch
mal zusammenreißen und die Realitäten der Welt zur Kenntnis nehmen, ihre
vielleicht bedauerliche, aber unvermeidliche Ungerechtigkeit?
Genau um die Ungerechtigkeit der
Welt aber und wie unerträglich die ist: Darum geht es im Kern in Chinatown.
An diesem 50 Jahre alten Kunstwerk lassen sich also paradoxerweise auch heutige
Gerechtigkeitsfragen sehr gut verhandeln.
Am Tag nachdem der Film Chinatown
am 20. Juni 1974 in den US-amerikanischen Kinos angelaufen war, schrieb Rex Reed in seiner Kolumne in der New York Daily News, dieser Film sei „so
groß und spannend und unterhaltsam, dass in vielen Jahren, wenn wir einmal
zurückblicken werden auf die wirklich wichtigen Filme der Siebzigerjahre, Chinatown
wahrscheinlich der sein wird, an den wir die liebevollsten Erinnerungen haben
werden“. Der Kolumnist, Hollywoodstar-Interviewer und Schriftsteller Reed,
könnte man hier einwenden, war allerdings auch ein sehr begabter Schwärmer.
Sein noch ein bisschen erfolgreicherer Kollege Tom Wolfe hatte bereits 1973 in
seinem Reader The New Journalism ein Interview von Reed mit Ava Gardner
mit einem interessanten literarischen Vergleich vorgestellt: Reed, so Wolfe,
schreibe sich selbst in Texte hinein auf eine Weise, wie es der Funktion von Nick
Carraway in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby entspreche. Carraway
ist der Erzähler in Fitzgeralds Roman und eine völlige Nebenfigur: Carraway
blickt liebevoll, aber halt von schräg unten auf den mysteriösen Protagonisten
Jay Gatsby. Er schwärmt von ihm.