Braucht Finnland eine „Zonenrandförderung“?: An welcher Grenze wird es trübe

Das Dunkelbier aus Mikko Suur-Uskis Bauernhofbrauerei schmeckt nach Malz und Hopfen, eine leichte Rauchnote kommt dazu. Mit seinem Aroma und seiner schimmernden Mahagonifarbe hat es in der Vergangenheit bei Wettbewerben auch schon außerhalb Finnlands die Preisrichter überzeugt, den hübschen Namen „Mustakauri“ haben sie schnell gelernt. Am markanten Geschmack des Biers hat sich seitdem nichts geändert, am Absatz umso mehr. Um mehr als ein Drittel ist der Ausstoß der Brauerei gefallen, seit die nahe Grenze zu Russland geschlossen ist. Von sechs Beschäftigten wurden zwei entlassen. „Es ist ein Desaster“, sagt Mikko Suur-Uski, der den Hof seiner Familie vor neun Jahren übernommen hat, um sich zusammen mit seiner Frau als Bierbrauer und Gastronom selbständig zu machen.

Damals war die Lage des Bauernhofs mit seinen properen rot gestrichenen Holzgebäuden für diesen Zweck ein Trumpf. Heute ist sie eine Last.

Finnlands Hauptstadt Helsinki ist 170 Kilometer entfernt; die russische Metropole Sankt Petersburg 210 Kilometer. Als Suur-Uski anfing, lag sein Hof fast genau in der Mitte zwischen zwei prosperierenden Großstädten, die sich einander in den Jahren zuvor mehr und mehr zugewandt hatten. Seit 2010 gab es eine direkte Schnellzugverbindung, nur dreieinhalb Stunden dauerte die Reise. Die Europastraße 18, die von West nach Ost quer durch das Gebiet der Gemeinde Virolahti führt, wurde für den wachsenden Verkehr zusehends ausgebaut.

„Über Sankt Petersburg kamen auch viele Besucher aus Indien und China zu uns“, berichtet Suur-Uski. Ein kleines Museum in der Nachbarschaft machte den Ort als Zwischenstopp attraktiv, für Busgruppen wie für Familien und Einzelreisende. Die Ausstellung erinnerte an eine überwunden geglaubte Zeit: die Konfrontation zwischen Finnland und der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs.

Der Grenzübergang, nur dreißig Kilometer von der Hofbrauerei entfernt, war der mit Abstand am meisten genutzte an der gesamten 1340 Kilometer langen finnisch-russischen Grenze. Mit rund 3,5 Millionen Grenzübertritten wurde 2013 zum Rekordjahr.

Die Grenze ist seit zwei Jahren dicht, von der Ostsee im Süden bis ins Polargebiet im Norden. Legal kommt seitdem niemand mehr von hier nach dort, weder in Virolahti noch an den anderen früheren Grenzübergängen. Man muss dafür jetzt bis nach Narwa in Estland fahren. Auf rund 200 Kilometern lässt die finnische Regierung überdies für rund 360 Millionen Euro einen von Videokameras gesäumten Grenzzaun bauen. Etwa zwei Drittel davon sind schon fertig, ein 3,50 Meter hohes Symbol der finnischen Zeitenwende. Das Land, das den Kalten Krieg neutral zwischen den Blöcken überstand und erst nach Russlands Angriff auf die Ukraine der NATO beitrat, ist ein Frontstaat des Westens geworden.

„Bei uns gibt es wenig Erfreuliches“, sagt der Bürgermeister

Die Finnen nehmen diese neue Rolle im Großen und Ganzen mit nüchterner Entschlossenheit an. Sie zeigen mit grimmigem Ernst die vielen Zivilschutzbunker überall im Land, sie nehmen in großer Zahl an freiwilligen Wehrübungen teil, sie sind stolz darauf, wie minutiös private Unternehmen und Militärverwaltung gemeinsam für den Ernstfall proben. Und sie reden nicht viel darüber, welche wirtschaftlichen Schwierigkeiten die rigorose Abkehr vom großen Nachbarn im Osten mit sich bringt.

Außer man fährt direkt an die Grenze, zum Beispiel nach Virolahti, wo sich die F.A.S. zusammen mit anderen deutschen Journalisten auf Einladung der EU-Kommission umgesehen hat. Was der Bierbrauer Mikko Suur-Uski dort in seiner rustikalen Gaststube berichtet, lässt sich auf die ganze Gemeinde mit ihren knapp 3000 Einwohnern übertragen. Deren Bürgermeister Topi Heinänen macht sich keine Mühe, die Lage zu beschönigen. „Viele Leute ziehen weg, weil sie keine Arbeit mehr haben“, sagt er.

Wo soll man anfangen mit den schlechten Nachrichten? Einen Steinwurf vom geschlossenen Grenzübergang entfernt verwittert ein pompöses Einkaufszentrum namens „Zsar“, das erst 2018 eigens für die zahlungskräftige russische Kundschaft eröffnet und schon 2022 wieder geschlossen wurde. Inzwischen haben die Betreiber Insolvenz angemeldet. Der Gemeinde fehlen die erhofften Steuereinnahmen und die Pacht für das Grundstück, für dessen Erschließung sie sich einst verschuldet hat; zu allem Überfluss sind die Zinsen für diesen Kredit auch noch gestiegen.

Auf den Bauernhof von Mikko Suur-Uski kommen nur noch wenige Touristen.
Auf den Bauernhof von Mikko Suur-Uski kommen nur noch wenige Touristen.Sebastian Balzter

Das ist längst nicht alles. In der Papiermühle fehlt das günstige russische Holz. Windkraftanlagen dürfen so nah an der Grenze nicht mehr gebaut werden, aus Sicherheitsbedenken. Und weil es keinen Grenzverkehr mehr gibt, zieht auch der Zoll sein Personal aus Virolahti ab. Die Zöllner werden stattdessen am Flughafen von Helsinki eingesetzt, wo neuerdings so viele Päckchen von chinesischen Billigversendern eintreffen.

Bürgermeister Heinänen hat in diesem Jahr eine Schule und einen Kindergarten geschlossen, um Geld zu sparen. „Wir versuchen das Schulgebäude auch noch zu verkaufen“, sagt er. Das Museum, das mit seiner Ausstellung zur finnisch-russischen Geschichte Touristen anzog, ist seit Kurzem ebenfalls geschlossen, eine weitere Sparmaßnahme. „Es gibt zurzeit wenig Erfreuliches bei uns“, sagt Heinänen.

Ein Zonenrandgebiet ohne Zonenrandförderung

Besucher aus Deutschland werden beim Blick auf den neuen finnischen Zaun unweigerlich an den alten deutsch-deutschen Zaun denken, der sogar knapp 1400 Kilometer lang war, aber immerhin einige Grenzübergänge enthielt. Wer alt genug ist, erinnert sich an zwei daran geknüpfte Begriffe: Zonenrandgebiet hieß der Grenzstreifen im Westen, Zonenrandförderung hieß das für ihn geschnürte wirtschaftspolitische Hilfspaket. Die damals noch junge Bundesrepublik war damit schnell bei der Hand, nachdem die DDR 1952 die Grenze geschlossen hatte.

Im Jahr danach genehmigte der Bundestag Kreditvergünstigungen, Frachthilfen und Steuervorteile für Betriebe nahe der Grenze. Später wurden diese Hilfen als „deutschlandpolitische Aufgabe“ in ein eigenes Gesetz gegossen, Bürgschaften und Sonderabschreibungen kamen hinzu. Einige Regeln galten bis Ende 1994, als die Teilung längst überwunden war.

Und in Finnland? Der Beschluss, die Grenze zu schließen, wurde 2023 in Helsinki getroffen, nicht in Moskau. Die finnische Regierung begründete ihre Entscheidung damit, dass Russland zuvor gezielt Migranten aus Drittländern an die Grenze gebracht habe, um mit deren Asylanträgen Unruhe zu stiften. Rund 1300 solche Fälle registrierte der finnische Grenzschutz. Vor allem die rechtspopulistische Finnenpartei, die mit den Bürgerlichen von Ministerpräsident Petteri Orpo zusammenarbeitet und in dessen Kabinett als zweitstärkste politische Kraft im Land unter anderem die Innenministerin stellt, drang auf die Grenzschließung. Im Parlament fiel der Widerstand der Opposition überschaubar aus. Einzig einige Friedensaktivisten kritisieren die Grenzschließung hartnäckig als verfassungswidrig und den Zaunbau als Geldverschwendung, beides sei zudem eher Kraftmeierei als Realpolitik.

So oder so: Dass Gemeinden wie Virolahti darunter leiden würden, war abzusehen. Doch einen Plan, wie ihnen zu helfen wäre, hat die Regierung auch gut zwei Jahre danach immer noch nicht.

„Der Wahnsinn muss doch irgendwann wieder aufhören“

„In Sonntagsreden geht es oft um das sogenannte Ostpaket“, sagt Bürgermeister Heinänen. „Aber konkret ist noch nichts bei uns angekommen.“ Dennoch fühlten sich manche seiner Bürgermeisterkollegen aus dem Westen schon jetzt benachteiligt, weil sie glaubten, dass üppige Staatshilfen in den Osten flössen.

Dass ganz Finnland seit einigen Jahren unter einer Wirtschaftsflaute leidet, macht die Sache nicht einfacher. Die Arbeitslosenquote liegt bei 9,6 Prozent, in Deutschland sind es 6,1 Prozent; die Staatsverschuldung ist seit 2010 von 50 auf mehr als 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen, in Deutschland lag sie zuletzt bei 62,5 Prozent. Den Wegfall Russlands als Handelspartner nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs hat die finnische Wirtschaft insgesamt zwar besser verkraftet, als angesichts der langen gemeinsamen Grenze zu befürchten schien. Das lag zum Teil aber schlicht daran, dass viele Unternehmen schon den Einmarsch Russlands auf der Krim 2014 viel stärker als etwa deutsche Anbieter zum Anlass genommen hatten, ihre Geschäfte im Osten zurückzufahren. Eine ähnliche Probezeit gab es auch für das neue Zonenrandgebiet: Während der Covid-Pandemie war die Grenze schon einmal weitgehend geschlossen. Damals hofften viele Gewerbetreibende allerdings darauf, dass es sich bloß um eine vorübergehende Episode handeln würde.

Danach sieht es nun nicht mehr aus. „Der Wahnsinn muss doch irgendwann auch wieder aufhören“, seufzt der Brauereibetreiber Mikko Suur-Uski zwar. Er hatte Pläne, sein Bier eines Tages auch in Sankt Petersburg zu verkaufen. Aber realistisch wirken diese Überlegungen nicht mehr. „Es wäre reine Zeitverschwendung, daran zu denken, dass es in fünf oder zehn Jahren wieder so sein könnte wie früher“, sagt jedenfalls Harri Broman. Er ist der Inhaber eines mittelständischen Autoteilehändlers aus der 300 Kilometer nördlich von Virolahti gelegenen Kleinstadt Joensuu und nebenbei deutscher Honorarkonsul. Sein Unternehmen habe etwa 15 Prozent vom Umsatz eingebüßt, seit keine russischen Kunden mehr bei ihm einkauften, überschlägt Broman. Es dürfte nicht zuletzt diese Erfahrung gewesen sein, die ihn für sein zweites Nebenamt ins Spiel gebracht hat. Der finnische Ministerpräsident hat Broman kürzlich zu seinem „Sonderbeauftragten“ für die Grenzregion gemacht.

Eine Grenzschutzpatrouille am neuen finnischen Grenzzaun bei Virolahti
Eine Grenzschutzpatrouille am neuen finnischen Grenzzaun bei VirolahtiSebastian Balzter

In dieser Funktion hat der Unternehmer dem Regierungschef in der vergangenen Woche einen Fünf-Punkte-Plan für die gebeutelte Region vorgestellt. Erstens gelte es, die Zug- und Flugverbindungen aufrechtzuerhalten, damit die Gegend nicht noch weiter ins Abseits gerate. Zweitens müsse der Tourismus gestärkt werden, etwa mit einer Marketingkampagne nach dem Vorbild Lapplands im hohen Norden, das in den vergangenen Jahren als vermeintliche „Heimat des Weihnachtsmanns“ einen wahren Besucheransturm erlebt hat. Drittens sollen die Stromleitungen ausgebaut werden, um energieintensive Industrie anzulocken. Viertens gelte es, Investitionen aus dem Ausland zu erleichtern. Und fünftens – das ist der Kern all seiner Überlegungen – schwebt Broman die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone vor.

Der Unternehmer hat sich in Polen und Litauen umgesehen, wie sich das im Einklang mit dem EU-Recht machen lassen könnte. Er hält unter anderem Steuernachlässe und vergünstigte Darlehen für möglich, wenn sie auf eine bestimmte Dauer, einen festgelegten Zweck oder eine Kategorie von Unternehmen begrenzt werden. Ob die Regierung sich dazu durchringt, ist noch nicht entschieden. Falls sie es tut, dann bekommt Finnland seine Zonenrandförderung. In Deutschland blieb sie 40 Jahre in Kraft.