Bochum in den 90ern: Tupac statt Tiktok

Jenes Bochumer Arbeiterviertel, in dem Behzad Karim Khanis Ich-Erzähler aufwächst, ist eine deprimierende Welt. Sozialer Wohnungsbau der siebziger Jahre, brachial hässlich, beklemmende Enge und Flure, in denen es nach „Zimt, Sozialhilfe und Großfamilien“ riecht. Wer hier lebt, hat nicht nur keine Dunstabzugshaube, sondern ist von der Gesellschaft abgeschrieben. In dieser denkfeindlichen Gegend wird der mit seinen Eltern aus Iran geflüchtete Reza groß, der in Als wir Schwäne waren seine Geschichte erzählt. Es ist eine Geschichte der Verluste, die von vorgezeichneten Wegen, von Verletzungen und Wut, ungeweinten Tränen und falschem Stolz handelt.

Manches davon kommt einem aus Khanis Debüt bekannt vor, mit dem er vor zwei Jahren die literarischen Herzen im Sturm erobert hat. In Hund, Wolf, Schakal erzählte er die Coming-of-Age-Geschichte zweier Brüder, die mit ihrem Vater aus dem Iran nach Deutschland fliehen und sich hier durchbeißen. Es gibt unübersehbare Parallelen zwischen beiden Romanen, die wiederum Parallelen zu Khanis Biografie aufweisen.

„Ich betrachte meine Vergangenheit als einen eigenständigen und vielleicht auch lebensfeindlichen Planeten“, erklärt er im Verlagsinterview zum Buch. In seinem ersten Roman habe er „Avatare auf diesen Planeten geschickt und geschaut, ob sie überleben. Jetzt habe ich mich selbst dahin getraut.“ Rückblickend erzählt sein Alter Ego in drei Teilen, wie es war, in einer Welt aufzuwachsen, in der Männlichkeit ein Wert für sich ist. In der es darum geht, möglichst wenig Gefühle zuzulassen. In der man zwar miteinander abhängt, wenn es darauf ankommt, aber jeder auf sich allein gestellt ist. Die Verbindung von Armut, Gewalt und Kriminalität ist selten so greifbar beschrieben worden wie von Khani.

Komisch, traurig, zärtlich

Zunächst klingt das recht harmlos. Ein paar Kinder machen das Beste aus der Tristesse, die sie umgibt. Sie schleppen ein altes Sofa in den Keller und träumen von einer Gang, mit der sie die Welt erobern. Als halbstarke Gewaltclowns verstecken sie sich hinter Gesten, die sie sich in den Musikvideos von Tupac, Public Enemy und Body Count abgeschaut haben. Diese Naivität wird im zweiten Teil von der Brutalität der Straße abgelöst. Aus der kindlichen Scheiße wird handfeste Kriminalität. Die Gewalt, mit der Reza und seine Jungs aufwachsen, hinterlässt tiefe Wunden in Körper und Seele. Um diese geht es dann im dritten Teil.

Im Vergleich zu seinem Debüt ist Khanis Zweitling noch dichter, bissiger und schmerzhafter. Als wir Schwäne waren kommt lässig und ernst, komisch und traurig, brutal und zärtlich daher. Diese permanente Gegenbewegung wird auch im Text aufgefangen. Der Erzähler parallelisiert das Außen und Innen seines Alter Ego, die Welt, wie sie sich ihm darstellt, und die Welt, wie sie sich ihm im Rückblick erklärt. „Ich weiß nicht, was sein Vater in ihn hineinprügeln wollte, aber ich ahne, was er aus ihm hinausgeprügelt hat“, erinnert er sich an das stille Leid eines Kindheitsfreundes.

Es gibt wenige Schriftsteller, die derart ins Volle gehen wie dieser Autor. Seine Prosa ist nicht in den Schreibstuben der Literaturinstitute geschliffen worden, sondern auf dem rauen Asphalt der Straße. So bringt der Text mit, was sich der kindliche Erzähler immer gewünscht hat: Punch und Street Credibility. Man spürt auf jeder Seite, dass Khani nicht nur weiß, wovon er schreibt, sondern auch wofür.

Sein Ton ist dringlicher und schärfer geworden, so wie die Gesellschaft, die ihn umgibt. Deren Unversöhnlichkeit kontert er mit Nachdenklichkeit. Wortgewandt und poetisch hält er der weißen Mehrheitsgesellschaft den Spiegel vor und zeigt, wie Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus eine Identität formen, die von Schmerz ebenso erfüllt ist wie von Stolz.

Die titelgebenden Schwäne symbolisieren dabei die permanente Suche der Figuren nach einer inneren und äußeren Heimat. Im Iran gelten Schwäne als scheue Zugvögel, immer auf der Suche nach den besten Verhältnissen, in Deutschland als Standvögel, die sich mit dem zufrieden geben, was sie umgibt. Was für ein Schwan will man da sein? „Was, wenn Glück schwerhörig macht, faul und flugunfähig?“, fragt sich der Erzähler als junger Mann und nähert sich so dem schwierigen Begriff der Heimat. In Deutschland hat Behzad Karim Khani bis heute keine Heimat gefunden, in der deutschen Sprache zum Glück schon.

Als wir Schwäne waren Behzad Karim Khani Hanser Verlag 2024, 192 S., 22 €