Besuch in welcher Heimat: Sommerblues
Das Spiel ging so: eine lange
Schnur, an jeder Seite gibt es zwei Griffe und zwei Enden. In der Mitte der
Schnur ist ein ovales Plastikteil. Man legt das Plastikteil an die beiden
Griffe und dann bewegt man es, in dem man die beiden Griffe auseinanderzieht.
Dabei saust das Plastikteil an den anderen Rand, zu den Griffen des
Mitspielers. Man öffnet und schließt die Griffe gegenseitig im Rhythmus.
Erinnerst du dich daran? Wir müssen das unbedingt mal wieder spielen.
Rucki-Zucki heißt dieses Spiel,
meine Schwester spricht begeistert davon. Obwohl sie sechs Jahre jünger ist,
scheint ihr Gedächtnis wacher als meins, nahezu fotografisch. Wir spielten
meistens auf der Straße: Bordsteinkanten-Werfen, Gummihopse, Vom-Dach-des-Pilzes-Springen,
einem Klettergerüst in Pilzgestalt im Sandkasten gegenüber. Im Winter zogen
wir, die Schlittschuhe an den Schnürsenkeln über der Schulter baumelnd und von
Mutter gestrickte Schlauchmützen auf den Köpfen, in die Eissporthalle. Es gab
unser Ritual am Neujahrsmorgen, wir suchten nach Knallern, die noch
funktionierten.
Ich bin in einer Stadt
aufgewachsen, die keine Straßennamen hatte – Halle-Neustadt. Wir wohnten im
Block 324/1.
Es gibt einen ähnlichen Fall in
Frankreich: Sarcelle, eine Großsiedlung nördlich von Paris, die auch versuchte,
ohne Straßennamen auszukommen. Vergeblich.
Mein Vater, der an der Universität
Halle in Chemie promoviert hat, entschied sich für eine Stelle in Buna, da
ein höheres Gehalt als anderswo und eine Wohnung in Halle-Neustadt winkten.
Im Jahr 1972 bekamen wir eine Dreiraumwohnung mit Miniküche und Bad. Sein Kombinat
VEB Chemische Werke Buna stellte Plaste und Elaste her, es hatte 18.000
Beschäftigte. Eine S-Bahn brachte die Bewohner:innen von Halle-Neustadt in 20
Minuten zum Werk, für die Frauen gab es den späteren sogenannten Mutti-Zug. Auch wir
nahmen später den Mutti-Zug und verbrachten Unterrichtstage in der
Produktion: zuerst Waggonbau Ammendorf, später Titrieren in weißen Schürzen im
Bunaer Labor. Es roch nach Pilzen auf dem riesigen Werksgelände, überall
drangen Dämpfe aus den Rohren.
Vom Wohnzimmer zur Küche gab es eine Durchreiche, die bei uns auch so benutzt
wurde. Bei vielen Leuten war an dieser Stelle ein Aquarium eingebaut. Die
Schrankwände waren braun und glänzend und hatten viele Türen und Fächer.
In der DDR wohnte fast ein Viertel der Bevölkerung in der Platte, im „Neubau“, wie es
damals hieß. Ich war eine von über 93.000 Einwohner:innen der größten, in den Sechzigerjahren auf dem Reißbrett entstandenen Planstadt der DDR, auch oft
Chemiearbeiterstadt genannt. Die Mieten waren überall erschwinglich, warmes
Wasser kam aus der Wand, kurze Wege führten zu Poliklinik, Kaufhalle,
Kindergarten und Schule.
„Alles hat seine Zeit. Ich könnte
mir ein Leben in Halle-Neustadt nicht mehr vorstellen“, sagt mein Vater, der
heute in Schkopau in unmittelbarer Nähe des Werks lebt. „Es sind viele nach der
Wende weggezogen. Uns fehlt ein kulturelles Zentrum„, sagte kürzlich im Radio
Roswitha Stolfa, ehemalige Geschichtslehrerin an der einzigen Erweiterten
Oberschule Halle-Neustadts, unserer „Penne“ namens Karl Marx.
Hier fand ich 1987 Heike, Konstanze und Claudia, meine drei besten Freundinnen,
mit denen ich im bulgarischen Restaurant um die Ecke Tee trank und stundenlang
redete, während wir uns über die Bibkis hermachten, die eigentlich als Brot
zur Suppe gereicht wurden. Es waren bewegte, aufregende Zeiten, wir rannten
ständig zu Lesungen. Konzerte und Bücher wurden zu politischen Offenbarungen,
wir waren Teil einer Gesellschaft in Bewegung.
Im Sommer 2024 statte ich meiner
Heimatstadt einen Besuch ab, ich möchte sie wiedersehen und ihr gratulieren, zu
60 Jahren Grundsteinlegung.
16 Jahre lang habe ich ganz
selbstverständlich in ihr gelebt. Mit 18 habe ich ihr schleunigst den Rücken
gekehrt, bin erst nach Halle gezogen, in die „Stadt“, Altbau, Ofen und Außenklo, später
dann nach Berlin, wo meine Freunde eine Wohnung für mich besetzt hatten.
Es gibt heutzutage nicht viele
Gründe, nach Halle-Neustadt zurückzukehren. Nur zwei meiner Mitschüler:innen
wohnen noch hier.
Das Spiel ging so: eine lange
Schnur, an jeder Seite gibt es zwei Griffe und zwei Enden. In der Mitte der
Schnur ist ein ovales Plastikteil. Man legt das Plastikteil an die beiden
Griffe und dann bewegt man es, in dem man die beiden Griffe auseinanderzieht.
Dabei saust das Plastikteil an den anderen Rand, zu den Griffen des
Mitspielers. Man öffnet und schließt die Griffe gegenseitig im Rhythmus.
Erinnerst du dich daran? Wir müssen das unbedingt mal wieder spielen.
Rucki-Zucki heißt dieses Spiel,
meine Schwester spricht begeistert davon. Obwohl sie sechs Jahre jünger ist,
scheint ihr Gedächtnis wacher als meins, nahezu fotografisch. Wir spielten
meistens auf der Straße: Bordsteinkanten-Werfen, Gummihopse, Vom-Dach-des-Pilzes-Springen,
einem Klettergerüst in Pilzgestalt im Sandkasten gegenüber. Im Winter zogen
wir, die Schlittschuhe an den Schnürsenkeln über der Schulter baumelnd und von
Mutter gestrickte Schlauchmützen auf den Köpfen, in die Eissporthalle. Es gab
unser Ritual am Neujahrsmorgen, wir suchten nach Knallern, die noch
funktionierten.