Atomwaffen: Putins atomarer Bluff

Wladimir Putin droht erneut mit seinem atomaren Arsenal. In seiner Fernsehansprache am Mittwoch sagte der russische Präsident, sein Land werde „alle uns zur Verfügung stehenden Mittel“ einsetzen, um die „territoriale Integrität“ zu verteidigen, und nannte auch Nuklearwaffen als Option. Und Putin versicherte: „Das ist kein Bluff.“ Zum Staatsgebiet dürften, nach russischer Lesart, bald auch vier in der Ukraine völkerrechtswidrig besetzte Regionen gehören, in denen Referenden über einen Anschluss an Russland beginnen sollen. Aber ist mit einer solchen Eskalation zu rechnen?

„Diese Drohungen und nuklearen Erpressungen sind sehr ernst zu nehmen, sie sind verstörend und zutiefst verantwortungslos. Ich halte einen Einsatz aber für unwahrscheinlich“, sagt Claudia Major, Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Wir müssen den Mechanismus dieser Erpressungsversuche verstehen, sie als solche benennen und nicht in Panik verfallen. Dann hätte Russland sein Ziel erreicht.“

„Russland und die USA befinden sich seit Jahrzehnten in einem Gleichgewicht des Schreckens: Beide haben genügend Atomwaffen, um die andere Seite zerstören zu können“, sagt Major. Sie verweist auf die lange Liste an Drohungen aus Moskau gegenüber dem Westen, mit denen der Kreml versucht, seine roten Linien klarzumachen. Russland habe zudem bisher die Drohungen nicht militärisch hinterlegt, also noch nicht Raketen aus den Lagerstätten zu Flugzeugen verlegt, um einen erhöhten Einsatzwillen zu signalisieren. „Diese praktischen Maßnahmen haben bislang nicht stattgefunden“, sagt Major. Putin gehe es um Einschüchterungen, der Westen dürfe kein Opfer dieser Erpressungsversuche werden.

Auch Peter Neumann, Professor am King’s College in London, schreibt: „Wer Debatten in Russland folgt, wusste, dass die Mobilmachung – nicht der Einsatz von atomaren oder chemischen Waffen – der nächste und sowohl politisch als auch militärisch logische Eskalationsschritt sind.“

Gegen den Einsatz etwa taktischer Bomben mit geringer Strahlung, den viele nun fürchten, spricht tatsächlich einiges. Es gibt vier gewichtige Gründe, warum dieser Schritt für das russische Regime keinen Sinn ergeben würde.

Übersicht:

1. Der militärische Nutzen taktischer Atomwaffen ist gering

Seit Monaten warnen Expertinnen und Experten, Militärs und die Politik vor dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen durch Russland – vor allem für den Fall, dass sich die militärische Lage noch stärker zugunsten der Ukraine entwickelt, der Druck auf das Regime in Moskau also steigt. Ausschließen kann das niemand absolut, aber den Kriegsverlauf würde das bei allen Risiken für Russland nicht entscheidend verändern.

Auch nach dieser Eskalation wäre davon auszugehen, dass die Ukraine weiter kämpfen würde. Der Kreml würde vom Einsatz taktischer Nuklearsprengköpfe auf dem Schlachtfeld wenig profitieren, da es im Nachbarland dafür kein geeignetes Ziel gibt – etwa eine Flugzeugträgergruppe, einen riesigen Stützpunkt mit kriegsentscheidendem Arsenal oder ein einziges, alles entscheidendes Oberkommando. Solche „Hochwertziele“, wie Militärs sagen, können mit taktischen Atomwaffen mit einem Schlag ausgeschaltet werden. So gab es in den Vereinigten Staaten unter „Falken“, militärpolitischen Hardlinern, durchaus Gedankenspiele, ob mit solchen Mini Nukes die unterirdischen Atomanlagen des Irans zerstört werden könnten. Es blieb allerdings bei einem Szenario auf Papier, weil der Einsatz dieser Waffen global geächtet ist.

In der Ukraine ergibt die Verwendung solcher Massenvernichtungsmittel für Russland also militärisch keinen Sinn. „Eine taktische Atomwaffe würde an der Front wenig ändern, schon weil das ukrainische Militär relativ dezentral organisiert ist“, erklärt Gustav Gressel vom European Council on Foreign Affairs im Münchner Merkur. So hätte Putin beispielsweise die Gegenoffensive im Raum Charkiw mit einer einzigen Atomwaffe nicht stoppen können, sagt der Militärexperte. „Dazu hätte es schon 10 oder 20 solcher Bomben gebraucht.“

Auch Pavel Podvig vom United Nations Institute for Disarmament Research hält es für wenig realistisch, dass Russland eine Kernwaffe zündet. „Wir brauchen eine klare Perspektive, was mit Nuklearwaffen erreicht werden kann“, sagt der Forscher. „Der Nutzen auf einem Schlachtfeld ist tatsächlich nicht sehr groß.“ Das sieht auch Claudia Major von der SWP so: „Die militärischen Gewinne des Einsatzes einer solchen Waffe wären wahrscheinlich gering, aber die politischen und militärischen Kosten enorm hoch. Wenn die nukleare Erpressung durch Russland seit Beginn des Krieges das Ziel hat, den Westen aus dem Krieg rauszuhalten und dessen Rolle zu begrenzen, siehe Flugverbotszone, dann würde Putin mit dem Einsatz einer taktischen Atombombe genau das Gegenteil erreichen: Die USA würden wahrscheinlich eingreifen.“

Zudem besteht das Risiko, dass eigene Truppen vom radioaktiven Fallout betroffen sein könnten. Auch potenzielle zukünftige Einsatzgebiete russischer Verbände würden so verstrahlt, dass dort künftig keine Operationen mehr möglich wären – also weitere Offensiven erschwert würden.

2. Innenpolitisch würde Putin weiteren Kredit verlieren

Putin hat seine „Spezialoperation“ im Nachbarland unter anderem damit begründet, Teile des Landes von den angeblichen Faschisten in Kiew befreien, das Land demilitarisieren und entnazifizieren zu wollen. Ein Einsatz von Atomwaffen würde deutlich zeigen, dass diese Gründe für den Einmarsch nur Lügen waren. Die Ukrainerinnen und Ukrainer gelten in Russland immer noch als Brudervolk. Das Nachbarland radioaktiv zu verstrahlen, dürfte viele Russinnen und Russen schockieren.

Der Präsident würde in diesem Fall zudem gegen die eigene Doktrin verstoßen. „Nuklearwaffen können eingesetzt werden, um Russland vor einer Attacke zu schützen, so sieht es die zuständige Doktrin vor. Aber nur wenn es einen nuklearen Angriff auf Russland gibt oder wenn ein konventioneller Angriff die Existenz des Staates bedroht“, sagt Podvig. Bislang bedroht die Ukraine nicht das Weiterbestehen Russlands, sie versucht lediglich, illegal besetztes und annektiertes Gebiet zurückzugewinnen. Lediglich mit Raketen beschossen die ukrainischen Streitkräfte einige wenige militärische Ziele auf der Krim, die Russland völkerrechtswidrig annektiert hat.

3. Der Westen würde hart reagieren

Die Vereinigten Staaten haben Russland vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen gewarnt und harsche Reaktionen angekündigt. Präsident Joe Biden sagte in einem Interview mit CBS: „Machen Sie das nicht! Es würde das Gesicht des Kriegs verändern wie nichts anderes seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Die USA und die Nato haben zwar nicht ausformuliert, wie genau sie auf einen russischen Atomwaffeneinsatz reagieren würden. Und niemand will einen Dritten Weltkrieg riskieren. Doch es würde eine Antwort geben, die Russland nicht wollen kann.

Mit einer konventionellen militärischen Reaktion auf einen russischen Einsatz von Atomwaffen rechnet Claudia Major. „Ich halte bei dem Einsatz einer taktischen Atomwaffe eine nukleare Antwort der USA für nicht sehr wahrscheinlich, da sie sich nicht auf eine Schwelle mit Russland in diesem Tabubruch stellen werden. Und sie können mit dem Einsatz konventioneller oder mit Cybermitteln den Krieg fundamental verändern. Ich würde eine starke Antwort in diesen Bereichen erwarten, in Absprache mit der Nato.“

Erwartbar wären zudem allumfassende Sanktionen gegen Russland, ebenso wäre ein noch stärkeres Engagement aufseiten der Ukraine im Krieg denkbar – das Putin ja gerade verhindern will.

4. Russland würde zum Paria der Staatenwelt

„Zehntausende oder Hunderttausende Menschen zu töten, das ist eigentlich unvorstellbar und muss überall verdammt werden“, sagt Pavel Podvig. Auch China und Indien, aktuell noch wichtige Partner Russlands, könnten das nicht tolerieren. Putin würde Russland mit der Verwendung von Massenvernichtungswaffen international dauerhaft isolieren. „Die Reaktionen wären verheerend“, glaubt auch Gustav Gressel. Das Risiko der kompletten Ächtung steht dabei in keinerlei Relation zu einem etwaigen Nutzen.

„Es würde die Lage fundamental verändern“, sagt Claudia Major. „Ich rechne mit einer weltweiten politischen Reaktion und Verurteilung in allen großen Gremien von den Vereinten Nationen bis G7 und EU.“ Zudem geht Major ebenfalls davon aus, dass die anderen Nuklearwaffenstaaten ein solches Vorgehen nicht akzeptieren würden. „Ebenso wichtig ist die Reaktion der anderen Atommächte: China und Indien haben kein Interesse an einer Änderung der nuklearen Ordnung, auch hier wäre eine Reaktion zu erwarten“, sagt Major. „Wenn sich diese beiden Staaten von Russland abwenden, könnte Moskau tatsächlich als Paria dastehen.“

Der Einsatz von Nuklearwaffen, das erste Mal seit 1945, wäre ein Bruch mit allen internationalen Regeln. Es besteht das Tabu, solche Mittel zu nutzen, stellt auch der renommierte britische Politologe und Militärhistoriker Lawrence Freedman fest. Wladimir Putin selbst habe sich noch im Sommer 2021 gegenüber Joe Biden zur Aussage ihrer Vorgänger, den Präsidenten Gorbatschow und Reagan im Jahr 1985, bekannt: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf niemals geführt werden.“