„Angemessen Angry“: Superwut

Superhelden brauchen immer ein Trauma, eine schlimme
Erfahrung, aus der sie gestärkt hervorgehen. Spiderman hat seinen Onkel
verloren, Superman seine Eltern. Bei sogenannten starken Frauenfiguren in Filmen oder Serien ist es ähnlich. Ihre Traumata bestehen oft aus der Erfahrung von sexualisierter
Gewalt, aus der, im übertragenen Sinne, übernatürliche Kräfte erwachsen sollen.

Die RTL+-Serie Angemessen Angry nimmt das mit den
Superkräften nun wörtlich: Nach einer Vergewaltigung entwickelt das Zimmermädchen
Amelie (Marie Bloching aus Die Discounter) ungeahnte Fähigkeiten: Wenn
sie wütend wird, lässt sie per Telekinese Mülltonnen durch die Gegend fliegen
und Wasserflaschen explodieren, ist aber auch physisch plötzlich unheimlich
stark. Die Grundidee der Serie erinnert an die US-amerikanische Netflix-Produktion I Am Not Okay With This aus dem Jahr 2020.

Die Serie von Elsa van Damke und Jana Forkel ist eine Dramedy,
eine Mischung aus Drama und Comedy. Auf dem Münchner Filmfest, wo Angemessen
Angry
im Sommer Premiere feierte, sagte van Damke, sie habe ihre eigenen
Erfahrungen und die von Frauen im Team verarbeitet. Die titelgebende Wut trage
sie in sich. Auch deshalb wollte sie sie mit Humor erzählen. „Wenn ich die
permanent rauslassen würde, dann könnte ich nicht mehr schlafen, nicht mehr
arbeiten“, sagte sie auf der Bühne. „Dass wir hier alle sitzen und ein ruhiges
Panel abhalten, statt Steine zu schmeißen, ist eine Superkraft.“

Entspräche die Serienidee der
Realität, müssten in Deutschland zwei Drittel der weiblichen Bevölkerung
Superheldinnen sein. So viele Frauen erfahren in ihrem Leben sexuelle
Belästigung, jede siebte Frau wird Opfer schwerer sexualisierter Gewalt. Das
Bundeskriminalamt veröffentlichte vor Kurzem einen Lagebericht, dem zufolge die Gewalt gegen Frauen im Vergleich zum Vorjahr in allen Bereichen gestiegen ist.

Es ist schon ein paar Jahre her, dass eine von der
MaLisa-Stiftung initiierte Studie zeigte, dass etwa in einem Drittel der deutschen
Fernsehproduktionen geschlechtsspezifische Gewalt zu sehen ist. Immerhin geben heute mehr Produktionen der
Opferperspektive Raum. Anfang des Jahres wärmte Ferdinand von Schirach in dem
ZDF-Film Sie sagt. Er sagt. den Mythos der Falschbeschuldigung in einem
Vergewaltigungsprozess auf, zumindest ordnete das Gerichtsdrama sie auch als
solchen ein.

Vergangene Woche lief in der ARD das Drama Bis zur
Wahrheit
von Lena Fakler (Buch) und Saralisa Volm (Regie). MaLisa-Mitgründerin
Maria Furtwängler spielt darin eine Ärztin, die vom Sohn ihrer besten Freundin
vergewaltigt wird. Während man in Bis zur Wahrheit die Vergewaltigung
teilweise aus Tätersicht sieht, zeigt Angemessen Angry sie bewusst nicht
und beweist, dass ein Film über sexuelle Gewalt diese nicht reproduzieren muss,
um deren Auswirkungen abzubilden.

In der Serie sieht man lediglich, wie ein Hotelgast (Laurence
Rupp) Amelie im Aufzug anmacht. Als sie ihn abweist, folgt er ihr in die
Teeküche. Sie ringen miteinander, dann verschwinden sie aus dem Bild und Synthesizer-Klänge
liegen über der Szene, sodass man auch keine Geräusche vernehmen kann. Als es
vorbei ist, kauert Amelie mit zerrissener Strumpfhose auf dem Boden. Sie
schleppt sich in die Wohnung, in der sie mit ihrer Oma Ursel (Christiane Ziehl)
lebt, liegt auf der Couch, Doctor’s Diary glotzend, teilnahmslos,
versehrt.

Angemessen Angry findet neue Bilder für Szenen, die
man schon oft gesehen hat. Erst erzählt Amelie nur ihrem besten Freund Tristan
(Bless Amada), der im Hotel als Security-Mann arbeitet, was ihr passiert ist.
Auch die Schilderung hört man nicht, dafür sieht man, wie er danach auf ihrem
Schoß Rotz und Wasser heult und sie ihn tröstet. Als er sie fragt, warum sie
noch nicht Anzeige erstattet hat, blickt Amelie entnervt
in die Kamera, daraufhin werden Schlagzeilen eingeblendet
von diversen Ermittlungen gegen prominente Männer, die allesamt eingestellt
wurden.

Als Amelie dann doch zur Polizei geht, ist es noch schlimmer, als sie befürchtet hat. Die Beamten, zwei Männer, sind unbeholfen, einer tätschelt
ihr sogar die Hand. In diesem Moment bemerkt sie ihre neuen Fähigkeiten: In
einer Art Eingebung sieht sie, dass ebendieser Polizist eine Verdächtige
begrapscht hat. Amelie stürzt auf die Straße, und auch da: lauter Täter. Und was
ist das für eine Kraft, die sie da plötzlich spürt? Amelie ist so verwirrt,
dass sie erst einmal googelt: „Superkräfte nach Vergewaltigung – was tun?“

Angemessen Angry schafft die Balance zwischen absurden
Momenten und solchen, die zu Tränen rühren – etwa, wenn die Frauen in der
Selbsthilfegruppe für Opfer sexualisierter Gewalt ihre Erfahrungen
schildern. Oder wenn Amelie erschüttert ist von der Schuldumkehr, die auch sie erfährt. Denn selbst ihre Oma
fragt, als sie von der Vergewaltigung erfährt, als Erstes, warum sie denn nachts alleine unterwegs gewesen sei.