Armenien – Ferner Frieden
Mit einer großen Schüssel Walnüsse auf dem Schoß setzt sie sich im Türrahmen zu uns, blickt neugierig in die Runde, beginnt Nüsse zu knacken. Leyla Muravyan (Name geändert) ist eine junge Frau von vielleicht 30 Jahren, Mutter von vier Kindern und eigentlich fremd in diesem Land. Sie kam mit ihrer Familie im September 2023 nach Armenien, in ein Dorf nahe der südarmenischen Stadt Goris. Sie sind aus Arzach geflüchtet. Hier im Dorf hatten ihre Vorfahren ein Haus, in dem sie nun wohnen. Ihren Pass aus dem benachbarten De-facto-Staat wollten sie behalten, sagt ihr Mann. Denn sie wollen ja eines Tages dorthin zurück.
„Arzach“ – die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Region, die bis zuletzt mehrheitlich von Armeniern bewohnt war. In Deutschland eher bekannt als „Berg-Karabach“; manche sprechen auch von „Nagorno Karabach“. Wenn man mit Menschen in Armenien spricht, landet man früher oder später bei dieser Region. Manche sprechen von „ethnischer Säuberung“, manche von einem „Massen-Exodus“, der vergangenes Jahr dort stattgefunden hat. Und manchen versagt bei dem Thema die Stimme. So wie etwa Armine Simonyan vom Impact Hub Goris, die beim Dolmetschen der Berichte der Journalistin Arpa Hakobian ihre Tränen nicht zurückhalten kann.
Dass die Regierung unter Nicol Pashinyan der Blockade des Gebietes und der Vertreibung der dortigen armenischen Bevölkerung tatenlos zugesehen habe, werten viele als Verrat. Dabei kann man diesen Schritt durchaus als Teil südkaukasischer Appeasement-Politik werten, die mit dem Ziel verfolgt wird, gerade die weitere Eskalation armenisch-aserbaidschanischer Interessengegensätze zu verhindern. Maria Karapetyan von der regierenden Partei „Zivilvertrag“ beschreibt den Frieden als zweites wichtiges politisches Ziel neben der Rechtsstaatlichkeit. Aktuell sei man in einem Friedensprozess mit Aserbaidschan und verhandele einen Friedensvertrag, sagt sie. Das armenische Volk wolle Frieden. Vom politischen Gegner muss sie sich dafür den Vorwurf gefallen lassen, es sei ein „Friedensprozess hinter verschlossenen Türen“ (Grigor Yeritsyan).
Und auch das Vertrauen in die Russische Föderation als Schutzmacht hat spürbar nachgelassen seitdem die sogenannten russischen Friedenstruppen nichts gegen die Annexion des Arzach-Gebietes durch Aserbaidschan unternommen haben. Mit Frieden hätten die Friedenstruppen gar nichts zu tun, meint ein Vertreter der deutschen Botschaft in Yerevan. Ähnlich lautet das Urteil von Außenpolitikerin Karapetyan: „Sie haben beobachtet und nichts gesehen“.
Insgesamt strebt die Regierung eine stärkere Loslösung von der Russischen Föderation an, was angesichts der Ausgangslage ein langwieriges und schwieriges Unterfangen werden dürfte. So ist russischer Einfluss aktuell in nahezu allen Bereichen zu spüren: Russisch ist (inoffizielle) Zweitsprache, das armenische Bahnsystem ist in russischer Hand, ebenso die armenische Kernkraft. „Es ist politisch sehr schwierig, Russland nicht involviert zu haben“, sagen Vertreterinnen der LGBTIQ-Organisation „Pink Armenia“ in Yerevan. Russische Staatsangehörige können Visa-frei nach Armenien einreisen; von deutscher Seite wird ihre Anzahl auf derzeit ca. 50.000 geschätzt. Auch wegen der hohen Kaufkraft dieser Community sind die Mieten zuletzt um das 5-Fache gestiegen, meinen Vertreter der ukrainischen Geflüchteteninitiative „Dopomaga“ in Yerevan.
„Es gibt keine Probleme mit ihnen“, sagt dagegen Lusine Aleksandryan von der Stiftung „Local Democracy Agency“ in Gyumri. Andere behaupten, die Sowjetunion sei bisher gar nicht zusammengebrochen. Auch bei Transparancey International glaubt man, das Land sei voller russischer Agenten. Der Regierungschef selbst vertrete russische Interessen, behauptet etwa Grigor Yeritsyan, ein junger Lokalpolitiker von Yerevan. Und auch Wissenschaftler wie der deutschsprachige Religionshistoriker Harutyun Harutyunyan sprechen von Versuchen, eine „Sowjetunion 2.0“ zu errichten. Immerhin läuft der Vertrag zur russischen Kontrolle am Flughafen Yerevan im Sommer diesen Jahres aus und wird seitens Armeniens nicht verlängert. Damit wird wohl ein kleiner Schritt zu mehr staatlicher Souveränität geschafft sein.
Was allerdings die Aussöhnung mit den muslimischen Nachbarn im Westen und Osten des Landes angeht, ist derzeit wenig Hoffnung zu spüren. „Wir können uns auf Alijew nicht als einen Partner verlassen“, meint die Demokratie-Expertin Aleksandryan. Und auch Politikerin Karapetyan wirkt unsicher bei der Frage, ob und wie man Aserbaidschan dazu bringen könne, die territoriale Integrität Armeniens anzuerkennen. Immerhin gibt es laut aserbaidschanischer Propaganda gar keinen armenischen Staat, sondern nur ein von Armeniern bewohntes „West-Aserbaidschan“. Und selbst dass es die Armenier als Volk oder Nation überhaupt gibt, wird in Baku mitunter geleugnet mit der Begründung, die heutigen Armenier seien keine „echten Armenier“, sondern „Zigeuner“.
„Es ist wirklich unmöglich, mit Aserbaidschanern und Türken in Frieden zu leben“, behauptet eine deutschsprachige Stadtführerin auf dem Weg durch das steinige und bergige Land. Dass die Idee einer friedlichen Koexistenz dieser Völker aktuell nicht sehr populär ist, hört man auch im Culture and Narrative Lab in Yerevan. „Ich sehe keine Perspektiven in diesem Konflikt“, meint etwa die Anthropologin Lusine Kharatyan. Dies ist vielleicht die größte Herausforderung für den Frieden im Südkaukasus: Dass die Menschen aufgehört haben, daran zu glauben, dass er überhaupt möglich ist.
„Turkophobia und Homophobia“ – so beschreibt der queere Schriftsteller Armen Ohanyan die Stimmung in der armenischen Gesellschaft. Und tatsächlich scheint der Blick auf die eigene glorreiche, aber sehr weit zurück liegende Vergangenheit eines Armeniens „from sea to sea“ – also vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer – in weiten Teilen der Bevölkerung die Wahrnehmung der politischen und geografischen Wirklichkeit zu beeinträchtigen. Das Trauma des Genozides von 1915 lebt fort, das damals verlorene West-Armenien (heutige Ost-Türkei) wird von manchen der zahllosen politischen Splittergruppen weiterhin als zurückzuforderndes Gebiet thematisiert.
Recht hat wohl Kharatyan, die sagt, dass es nicht nur ums Trauma gehe, sondern auch um Kommunikation. An dieser grenzübergreifenden Kommunikation zwischen den Völkern fehlt es aktuell im Südkaukasus: die armenischen Grenzen nach Westen (Türkei) und Osten (Aserbaidschan) sind geschlossen, Kontakte zu türkischen oder aserbaidschanischen Menschen werden – wenn überhaupt – im Geheimen gepflegt, wie eine Vertreterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Yerevan schildert. Starke Feindbilder auf allen Seiten verhindern den Kontakt zueinander und das Verständnis füreinander. Manche glauben, dies diene vor Allem dem Machterhalt Einzelner und helfe, von den innenpolitischen Themen abzulenken.
„Die Nachkriegszeit ist jetzt“, sagt Harutyunyan. Das müssten die Menschen in Armenien begreifen. Welche Rolle kann beim Friedensprozess der Westen – Europa, die USA, Deutschland – einnehmen? Auch hier sind die Antworten verschieden. Während dubiose Politaktivisten wie der Chirurg Vahe Gasparyan von der Nationalen Demokratischen Allianz die „Übernahme“ Armeniens durch „den Westen“ fordert, bleiben viele Armenier zurückhaltender oder gar pessimistisch. In einem Sozialzentrum in Gyumri, wo man sich immer noch um Erdbebenopfer von 1988 und neuerdings auch um Geflüchtete aus Arzach kümmert, ist die Antwort ein klares „Nichts“. Am meisten brauche es ein verändertes politisches System im Land. Wissenschaftler Harutyunyan formuliert, dass man in diesem festgefahrenen Konflikt vor allem Mediation und Moderation benötige – von unbeteiligten Dritten wie etwa der Bundesrepublik.