Anouk Aimée ✝︎: Sie hatte den Zauber jener Unergründlichkeit – WELT

Leben und Kino schienen für sie von Anfang an im Streit miteinander zu liegen. Wäre es nach ihr gegangen, hätte ihre Karriere schon vor siebzig Jahren ein jähes Ende genommen. Nach der Geburt ihrer Tochter, kaum zwanzigjährig, zog sie sich zum ersten Mal aus dem Filmgeschäft zurück. Kein Star ihrer Größenordnung entfloh so häufig und lang der Leinwand wie Anouk Aimée. „Ich war nie eine Schauspielerin“, bekannte sie einmal, „in der eine glühende Flamme brennt.“

Ihre Karriere gehorchte einem faszinierenden Wechselspiel von Verweigerung und Hingabe. Die Oscar-Nominierung für „Ein Mann und eine Frau“ (1966) brachte ihr zahlreiche Angebote aus Hollywood ein, die sie fast sämtlich ausschlug. Sie wäre berückend gewesen als Gegenspielerin Steve McQueens in „Thomas Crown ist nicht zu fassen“.

Dabei konnte sie auch im Privatleben dem Kino nie entkommen. Ihre Ehemänner und Lebensgefährten stammten in der Regel aus dem Filmgeschäft. Während ihrer vierten Ehe mit Albert Finney pausierte sie sieben Jahre lang. Erst nach dem Comeback als Partnerin Catherine Deneuves in „Ein Hauch von Zärtlichkeit“ (1976) schien sie mit ihrem Beruf versöhnt. Der Darstellerpreis, den sie 1980 in Cannes für ihre Rolle in Marco Bellocchios „Der Sprung ins Leere“ erhielt, besiegelte diese Selbstfindung. Von nun an siegte das Kino.

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Bis dahin mag das Publikum ihr Zögern und ihren Wankelmut bedauert, aber nie wirklich verübelt haben, denn sie entsprachen genau der Leinwandpersona, die Federico Fellini in „Das süße Leben“ (1960) und Jacques Demy in „Lola, das Mädchen aus dem Hafen“ (1961) für sie entwarfen. Sie brillierte im Rollenfach der modernen Frau, die das Glück zu suchen versteht, aber auch ihren Geliebten immer ein Rätsel bleibt.

Anouk Aimée um 1965
Anouk Aimée um 1965
Quelle: Getty Images/Silver Screen Collection/Moviepix

Das Unterpfand ihres Spiels war der Vorbehalt. Allerdings trat sie in der wohl dauerhaftesten Romanze der Filmgeschichte auf: Nach „Ein Mann und eine Frau“ drehte Claude Lelouch noch zwei Fortsetzungen mit dem Traumgespann Aimeé-Trintignant, 1986 und 2019 („Die schönsten Jahre eines Lebens“), wo ihre Präsenz wunderbar verwittert war und zugleich den lebenstüchtigen Elan verriet, den sie inzwischen längst in Großmutterrollen bewies.

Filigrane Harmonie der Gegensätze

Als Nicole Françoise Florence Dreyfus wurde sie am 27. April 1932 in Paris in eine Schauspielerfamilie geboren. Früh nahm sie Ballettunterricht an der Oper in Marseille und besuchte Schauspielkurse in Paris. Mit 15 wurde sie vom Regisseur Henri Calef für den Film entdeckt. Bereits ihre zweite Rolle (in der zeitgenössischen Romeo-und-Julia-Variation „Die Liebenden von Verona“, 1949) wurde ihr auf den Leib geschrieben – vom Filmdichter Jacques Prévert, der nebenbei auch noch ihren Künstlernamen erfand.

Mit 17 stand sie bei der britischen Produktionsfirma Rank unter Vertrag und verfolgte sporadisch eine europäische Karriere. An Neugier und der Lust auf anderes fehlte es nicht immer. Mitte der 1950er-Jahre trat sie, an der Seite von O. W. Fischer und Karlheinz Böhm, in drei deutschen Filmen auf; nach dem Erfolg, den sie mit ihrer Studie großbürgerlichen Ennuis in „Das süße Leben“ und „Achteinhalb“ feierte, drehte sie vorwiegend in Italien.

Anouk Aimée 2012 in Paris
Anouk Aimée 2012 in Paris
Quelle: WireImage/Foc Kan

Ihre gertenschlanke Gestalt machte sie zu einem eleganten Gegenstück der üppigen Sexsymbole der Nachkriegszeit. Eine filigrane Harmonie der Gegensätze herrschte in ihren Zügen, die großen Augen wurden von schweren Wimpern hervorgehoben; ihre markante Nase stand im Einklang mit den breiten, sinnlichen Lippen, denen ein Lächeln ebenso leicht gelang wie die Wehmut.

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Zur Projektionsfläche taugte Aimée nur bedingt: Die Regungen, die man hinter ihrem maskenhaften Antlitz vermutete, waren zu raffiniert. Ihre besten Regisseure brachten unterschiedliche Facetten in ihr hervor. Die schüchterne, unterwürfige Ehefrau, die sie für Sidney Lumet in „Ein Hauch von Sinnlichkeit“ (1968) spielte, hat nichts gemeinsam mit ihrer atemlos koketten „Lola“ bei Demy – außer der Melancholie. Flüchtigkeit und Tiefe der Gefühle, Gleichgültigkeit und Sehnsucht waren bei Aimée nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt.

Die Liebeserklärung, die sie Marcello Mastroianni in „Das süße Leben“ machte, wirkte glaubhaft selbst noch in dem Moment, wo sie sich schon der Umarmung eines Anderen hingab. Diese Garbo aus dem Geist der Nouvelle Vague hielt in der Schwebe, ob ihre Figuren die selbstzerstörerische Kraft der Gefühle fürchteten oder ob sie deren Überschwang misstrauten. Ein Zauber der Unergründlichkeit lag über ihren besten Rollen; keine andere Schauspielerin trug in ihren Filmen so häufig Sonnenbrillen wie sie.

Source: welt.de