Anne Webers „Bannmeilen“: Orte, an die sich kein Tourist je verirrt

Nicht eben selten ist die Bezeichnung Roman hochgestapelt für magere Erzählungen, Allerweltsunwichtigkeiten oder autobiografischen Nebbich. Hingegen ist, wenn Anne Weber ihr jüngstes Buch als Roman tituliert, das pure Untertreibung. Denn ihre zwei Jahre währenden Streifzüge durch die Pariser Banlieue, zusammen mit dem algerischstämmigen Filmer Thierry, sind erzählendes Sachbuch at it’s best. Sie geht dorthin, wohin kein Tourist sich verirrt, selbst wenn er gerne Drogen kaufen würde, dorthin, wo diejenigen leben, die den Touristen und Wohlstandsparisern das Leben angenehm machen, mehr noch die, die dort gar nicht erst wegkommen, Zuwanderer, illegal, neu angekommen oder schon in der dritten Generation. Leute, die keine gegen fast keine Chance eintauschten.

Inmitten von Schrott der Friedhof

Den Ring der Cités durchwandern die beiden, der durch die Betonbänder des Autobahnrings perfekter als durch eine Mauer vom Inneren abgetrennt ist. Nicht Paris 75, sondern 93. Eine sich wiederholende Grundmixtur aus Baumärkten, Lagerhallen, Discountern in unterschiedlichen Verfallsstadien, garniert mit Relikten des Früher, Müll, Obdachlosenprovisorien und hineingeschnittenen Baustellen für Olympia. Die Straßen tragen die Namen von Marx oder Lenin oder der Revolution. Doch belebt sich die Szenerie durch bizarre oder bedeutsame Funde. Das Haus, in dem Asterix auf die Welt kam. Inmitten von Schrott der Friedhof, auf dem El Ouafi, der Marathonchampion der Olympischen Spiele 1928, liegt. Internationaler Star für kurz, bald zurückgestürzt in Armut und Vergessenheit. Kriegerdenkmäler, darunter eins für die gefallenen afrikanischen Soldaten. Der Ort, von dem die jüdischen Franzosen 1942 per Bahn in den Tod deportiert wurden – und so fort.

Vor allem immer wieder die Menschen, die in riesigen Blocks leben oder unter Planen hausen. Ein Krankenhaus nur für Muslime, eine Riesenmoschee ganz ohne Frauen. Mobile Autoreparateure aus Osteuropa, Dealer aus Schwarzafrika oder dem Maghreb. Man begegnet Leuten, die sich dort einrichten, resignieren oder hinausstreben. Anne Weber erzählt aber auch von ihrer Angst, zum Beispiel vor einem aufdringlichen Schwarm Kinder. „Um jemandem diese beschämende Angst zu erklären, müsste ich ihn in diese Landschaft aus Stein und Beton versetzen, in die Ödnis, die Kälte, die Leere, in eine marode Gegend aus Senkrecht und Waagrecht.“ Dieses wunderbar aufmerksam, sensibel und intensiv erfasste Panorama hat eine Art Anderort, zu dem die Streifzüge oft zurückführen, das Café Le Montjoie, in der Nähe des Fußballstadions, in der Rue Roland Vachette. (Vielleicht wagt man sich, wenn der Olympia-Trubel vorbei sein wird, als Neugiertourist dorthin?) Betrieben wird es von Rachid, der kaufmännischer Angestellter war, ehe er das Café von seiner erkrankten Mutter übernehmen musste. Nebenher gibt er eine unregelmäßig erscheinende Zeitschrift heraus.

Besucht wird es von Stummen wie Schwallrednern. Hier die ehemalige Krankenschwester, die ihre Kreuzworträtsel löst, dort der Serbe, der mit einer Kabylin verheiratet ist. Ihre alltäglich-fantastischen Lebenserzählungen. Dann ist da eben noch Thierry, dessen Vater aus Algerien kam und sich zum Hyperfranzosen entwickelte, während Thierry, der es von hier fortgeschafft hat, seine Herkunft wie einen unsichtbaren Buckel mit sich trägt. Für ihn sind fast alle dort Cousins, aber von den Marokkanern hält er nichts und sich fern. Er fühlt sich „entre deux ailleurs“, zwischen zwei Woanders. Über ihn und die vielen anderen rücken die Streifzüge dieses faszinierenden Buchs nicht nur die tabuisierten Ränder in den Fokus, sondern illustrieren zugleich auch die komplexen Widersprüche arabisch-muslimischer Existenzen dort.

Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen Anne Weber Matthes & Seitz 2024, 302 S., 25 €