Ampelkoalition: Die seltsamen Widersprüche des Haushaltsstreits

Es war eine Idee, an die auch Scholz’ eigene Leute nicht recht glaubten. Man fragt sich, warum sie überhaupt ins Kompromisspapier gekommen war. Vielleicht damit der Finanzminister schon mal einen Punkt hatte, den er auf dem Altar seiner verfassungsrechtlichen Prüfung opfern könnte – um zu zeigen, dass er die Dinge sorgfältig wägt und die anderen Haushaltstricks eben keine waren, sondern einer sorgfältigen Abwägung entsprangen?

Die Förderbank: nicht förderlich

Natürlich weckt es immer Begehrlichkeiten, wenn ungenutztes Geld einfach irgendwo herumliegt. In diesem Fall ging es um die Überweisungen, die der Bund an seine Förderbank KfW getätigt hatte, um die Überweisungen für die Energiepreisbremsen zu tätigen. Bekanntlich wurden Gas und Strom schneller als erwartet wieder günstiger, die Anträge kamen immer spärlicher, und all die schönen Euros blieben liegen.

Die Sache hatte nur einen Haken. Das Geld stammte ja nicht aus üp­pigen Mehreinnahmen des Staates, weil sich Putins Krieg so positiv auf dessen Finanzlage ausgewirkt hätte. Im Gegenteil: Es kam aus zusätz­lichen Krediten, die Scholz und Lindner unter Verweis auf die Krise aufnahmen. „Im Falle von außer­gewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“, heißt es im Grundgesetz, könnten die Kreditobergrenzen „auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden“.

Das war aber genau der Fall, über den das Verfassungsgericht vorigen Winter geurteilt und damit die Regierung in eine Krise gestürzt hatte. Eine Ausnahme von der Schuldenbremse zu beschließen und das Geld hinterher für ganz andere Ziele seinem Zweck zu entfremden: Das geht nach dem Karlsruher Spruch gar nicht mehr.

Eine Maut, die sich nicht traut

Der Kanzler sagt, es geht, der Finanzminister findet, es geht nicht: Bei keinem Thema sind Olaf Scholz und Christian Lindner im Haushaltsstreit so weit auseinander wie bei der Frage, ob der Bund seiner Autobahngesellschaft für die Straßensanierung auch Kredite geben kann, um sich von Zuschüssen zu entlasten. Das sei nach den Gutachten seines eigenen Wissenschaftlichen Beirats und des gemeinsam beauftragten Bielefelder Staatsrechtlers nicht möglich, findet Lindner. Der habe die Stellungnahmen „grundfalsch aufgefasst“, sagt Scholz.

Dabei liegen die beiden eigentlich nicht weit auseinander, sie ziehen nur unterschiedliche Schlüsse. Die Gutachter sagen: Wenn Kredite nicht nur versteckte Zuschüsse sein sollen, die der Bund später ohnehin selbst zurückzahlen oder durch neue Darlehen ablösen muss, dann braucht die Autobahngesellschaft eigene Einnahmen. Das ist keine Überraschung, denn so haben es auch Scholz’ Leute vom ersten Tag der Haushaltseinigung an gesagt.

Als Vorbild könnte die österreichische Asfinag dienen, die „Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft“, die im Nachbarland die Einnahmen aus der „Pickerl“ genannten und inzwischen elektronischen Vignette verwaltet – und obendrein Kredite am Kapitalmarkt aufnehmen kann, ohne dass dies auf die Staatsschuld angerechnet würde. Schließlich besteht ja die Aussicht, dass sie die Verbindlichkeiten aus Mautgeld zurückzahlen kann.

Anders als Österreich zahlen in Deutschland nur Lastwagen eine Maut, Autos nicht. Und das Geld fließt hierzulande in den Staatshaushalt. Aber einen Teil davon könnte der Bund, so die Idee, künftig direkt der Autobahngesellschaft überlassen. Er würde dadurch keine Einnahmen verlieren, denn er könnte die bisherigen Zuschüsse für den Straßenbau im selben Ausmaß kürzen.

Es ist nicht so, dass Lindner diese Option nicht sähe. Er lässt jetzt nur verlauten, dass dieser Weg so kurzfristig nicht machbar sei. „Das würde gesetzliche Änderungen erfordern, die mit erheblichem Aufwand verbunden wären“, heißt es aus dem Finanzministerium. Außerdem habe es bei der Gründung der Autobahn GmbH 2017 für ein solches Kon­strukt keine Mehrheit gegeben. Aus Sicht der SPD stellt sich allerdings die Frage, warum Lindner diese Erkenntnisse nicht schon vor einem Monat kundgetan hat.

Jene „eigenständigen und neuen Ertragsquellen“ für die Autobahngesellschaft, die Lindners Beirat verlangt, ließen sich freilich noch auf ganz andere Art erwirtschaften: Deutschland könnte nach österreichischem Vorbild auch eine Automaut einführen. Daran traut sich derzeit allerdings keine Partei heran.

Mehr Geld, weniger Züge

Eines haben Bahn und Autobahn gemeinsam, genauer die Deutsche Bahn AG und die Autobahn GmbH des Bundes: Sie sind zu hundert Prozent in Staatsbesitz. Da hören die Parallelen aber fast schon auf. Denn während die Autobahngesellschaft allein von Staatsgeld abhängt, hat die neue Infrastrukturgesellschaft der Bahn (InfraGO AG) eigene Einnahmen aus den Trassengebühren, die andere Konzerntöchter sowie deren Konkurrenten zahlen müssen.

Anders als die Autobahn GmbH könnte sie deshalb auch ohne Änderungen von Gesetzen und Unternehmensstrukturen theoretisch Kredite aufnehmen und bedienen. Da stimmen die Gutachter dem Kanzler im Prinzip zu. Die InfraGO AG handele „auf eigene Rechnung zur Förderung der dem Unternehmen obliegen Sachaufgabe“, schreibt Staatsrechtler Hellermann. Das heißt: Wenn sie sich Geld vom Bund leiht, das dieser nicht als verlorenen Zuschuss verbucht, ist das nicht zwingend ein verbotener Trick.

Es kommt allerdings darauf an, dass das Konstrukt „nicht allein“ darauf zielt, die Schuldenbremse zu umgehen, wie Hellermann weiter ausführt. „Nicht allein“: Das bedeutet, dass es als Nebenzweck durchaus erlaubt ist. Ein bisschen ist es wie mit dem Versuch der CSU, eine Autobahnmaut speziell für Ausländer einzuführen: Weil das der einzige Zweck war, verstieß es gegen EU-Recht. In Österreich, wo Fahrer aus anderen Ländern gleichsam nebenbei stärker belastet wurden, war es erlaubt.

Der wichtigste Maßstab ist nun wiederum, ob die Bahn überhaupt eine Chance hat, das Geld jemals aus eigenen Mitteln zurückzuzahlen – oder ob sie dafür in den Folgejahren zwingend neues Staatsgeld braucht, sei es in Form von Zuschüssen oder Krediten.

Diese Frage wird die Regierung wohl gar nicht beantworten müssen. Der Finanzminister hat schon an­gekündigt, stattdessen einfach das Ei­genkapital der Bahn zu erhöhen, und wenig spricht dafür, dass sich Scholz gegen diesen Vorschlag sperrt. Allerdings wäre die Bahn nach jetziger Lage der Dinge dann gezwungen, abermals die Trassenpreise zu erhöhen, manche Zugverbindungen könnten dadurch unrentabel werden. Aber davon lassen sich die Koalitionspartner in ihrer Finanznot nicht aufhalten. Ein Trick ist das offenkundig auch, aber eben einer, den kein Richter sanktionieren wird.

Gut ist, wenn es schlecht läuft

Arg groß sind die Summen nicht, um die sich Kanzler und Finanzminister noch streiten. Das hat auch damit zu tun, dass die Konjunktur zuletzt nicht gut lief. Früher wäre das schlecht gewesen, denn es mindert Steuereinnahmen, und es erhöht Sozialausgaben.

Aber Schuldenbremse und Demographie verändern das Kalkül. Wenn es ohnehin zu wenige Arbeitskräfte gibt, verlieren durch maue Wachstumsraten weniger Leute ihren Job als früher. Der Konjunktureinfluss auf die Staatsausgaben hat sich also verringert. Wichtiger ist: Bleibt das Land hinter seinem ökonomischen Potential zurück, erhöht das den Spielraum für die Staatsverschuldung. Weicht die konjunkturelle Entwicklung von der Normallage ab, sind „die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen“, heißt es in Artikel 115 des Grund­gesetzes, der die Schuldenbremse für den Bund regelt. Das Ausführungsgesetz erlaubt dann Einnahmen aus Krediten, „die der erwarteten Wirkung der konjunkturellen Entwicklung auf den Haushalt entsprechen“.

So weit, so gut. Aber woher kennt man die „Normallage“, an der sich die Abweichung bemisst? Streng genommen wissen erst die Wirtschaftshistoriker, und zwar Jahrzehnte später, wie der langfristige Wachstumstrend ausgesehen hat. Im Verlauf der Fünfziger- und Sechzigerjahre etwa hielten die Westeuropäer ihre gewaltigen Wachstumsraten irgendwann für normal – und übersahen, dass das im Grunde nur ein Aufholen der Verluste zwischen 1914 und 1945 war. Schlimmer noch: Als das Wachstum seit den Siebzigerjahren auf das langfristige Normalmaß zurückkehrte, sahen die meisten Po­li­tiker gerade darin eine Ausnahme – und glaubten, die vermeintlich vo­rübergehende Delle durch Kredite überbrücken zu können.

Diesen Mechanismus macht sich jetzt die Ampelregierung zunutze. Man könnte von einem weiteren Trick sprechen – aber einem, den der Finanzminister wohlweislich nicht durch Gutachter überprüfen ließ.

Denn mit dem Haushalt haben sich Koalitionsspitzen vor einem Mo­nat zugleich auf eine „Wachstumsinitiative“ geeinigt – und dekretiert, dass dieses Bündel an Arbeitsanreizen die Wirtschaftsleistung um rund ein halbes Prozent nach oben treibt – und zwar nicht konjunkturell-kurzfristig, sondern strukturell-langfristig.

Das bedeutet: Die „Normallage“, von der das Grundgesetz spricht, wurde einfach nach oben definiert. Damit kann die Regierung die erwarteten Mehreinnahmen in den Haushaltsentwurf einrechnen – und zugleich den Spielraum für die Kreditaufnahme wahren: Wenn es wirklich so kommt, ist das höhere Wachstum schließlich keine vorübergehende gute Konjunktur, sondern sozusagen das neue Normal.

Beschlossen, verworfen

Über allem fachlichen Kleinklein schwebt die große Frage: Warum hat die Ampelregierung ei­gentlich schon wieder einen Beschluss gefasst, den sie gleich wieder selbst zerredet? SPD und Grüne fühlen sich an andere Themen wie das Heizungsgesetz oder das Rentenpaket erinnert, das die FDP ebenfalls im Kabinett mittrug und vor der Parlamentsbefassung gleich wieder infrage stellte. Der liberale Finanzminister wiederum verweist darauf, dass er die Einigung von Anfang Juli von vornherein unter den Gutachtervorbehalt gestellt hatte.

Die Antwort liegt wahrscheinlich darin, dass die Sache zwar für die ganze Regierung schlecht lief, für den Finanzminister allerdings besonders schlecht. Er hatte im Kern zwar erreicht, was er wollte und seinen Wählern versprochen hatte: keine neuen Steuern und zugleich keine weitere Ausnahme von der Schuldenbremse. Allerdings war in der öffentlichen Wahrnehmung dann schnell von den Tricks der Regierung die Rede – ein Bild, das zwar auch für den Kanzler ungünstig war, für die Finanzminister aber besonders ungünstig. Umso mehr schien ihm jetzt an einer Korrektur gelegen zu sein.

Und natürlich fürchtet Lindner wirklich, dass sein Haushalt abermals vom Verfassungsgericht zerpflückt werden könnte – und das womöglich im nächsten Sommer, kurz vor der Bundestagswahl. Das sei nachvollziehbar, heißt es auch bei den Koa­litionspartnern. Während sich die Grünen aus dem öffentlichen Ge­zerre um den Haushalt heraushalten, nachdem sie die wichtigsten ihrer Klimaprojekte gerettet haben, zeigt sich die SPD jedoch offen pikiert von Lindners Vorpreschen. Man habe doch die Gutachten erst mal intern besprechen können, heißt es.

Wann und wie es jetzt weitergeht, bleibt offen. Neue Sparbeschlüsse zulasten einzelner Interessengruppen gelten seit den Bauernprotesten des Winters als nicht opportun, umgekehrt wird der Finanzminister nach seinem öffentlichen Vorpreschen den geplanten Autobahnkrediten nicht doch noch zustimmen können. Aber vielleicht fallen den Beteiligten ja noch neue Buchungstricks ein.