ADHS-Diagnose mit 71: Warum es nie zu tardiv ist, sich selbst zu verstehen

Jean Ward fragte sich schon immer, ob etwas mit ihr nicht stimmte – und dafür hasste sie sich. Begonnen hatte dieses Gefühl bereits in der Schule. Dort konnte sie zwar einen Storch in den Maserungen ihres Holztisches erkennen, aber die Tafel konnte ihre Aufmerksamkeit nicht fesseln. Ihr Gefühl von Scham und Andersartigkeit begleitete sie, bis sie im Alter von 71 Jahren erfuhr, dass sie „schweres ADHS“ hat, und endlich begann, sich selbst zu akzeptieren.

„Eine Diagnose gibt einem eine gewisse Stärke“, sagt sie. „Und Selbstbewusstsein. Vielleicht bin ich doch nicht so schrecklich, wie ich dachte.“

Es war Wards Partner Derek, ein pensionierter Arzt, der das Thema erstmals ansprach. „Schau mal hier“, sagte er, als er die Sonntagszeitung las, und zeigte Ward ein Interview mit einer Autorin, die ADHS hat. „Das könntest du sein.“ Ward schrieb daraufhin ihrem Arzt, von dem sie nach einer Untersuchung im April 2023 ihre Diagnose erhielt.

Ein konventioneller Lebensweg? Nur mit Depression

Ward ist heute 72 und beschreibt sich selbst als „völlig chaotisch“. Sie platze mitten in die Gedanken ihres Partners hinein, während dieser „ein gut organisierter Mensch mit einem hervorragenden Gedächtnis“ sei. „Er holt mich zurück in die Realität.“ Seit 20 Jahren sind die beiden ein Paar. In der Beziehung konnte Ward zu einem lang ersehnten Gefühl von Kompatibilität und Zugehörigkeit finden.

Als Tochter zweier Lehrer:innen trafen Ward ihre schulischen Schwierigkeiten besonders hart. Sie verpasste sogar ihre Kunstabschlussprüfung, weil sie den Termin vergessen hatte. Doch nach einem Vorspiel wurde sie am Dartington College of Arts in Devon für ein Musikstudium angenommen. Innerhalb weniger Jahre erwarb sie Abschlüsse, heiratete und fand eine Stelle als Musiklehrerin.

In ihren frühen Erwachsenenjahren bemühte sich Ward noch darum, den konventionellen Lebensweg zu meistern. Zweimal heiratete sie. Beide Ehen hielten jeweils länger als ein Jahrzehnt, und sie bekam drei Kinder. „Aber ich kannte mich selbst überhaupt nicht“, sagt sie heute. „Ich hatte schreckliche depressive Episoden. Ich war mit der falschen Person verheiratet, hatte einen Job zu halten und eine Familie großzuziehen.“ Emotionen erlebte sie äußerst intensiv, und ihre „Neigung, Dinge zu verlieren oder zu vergessen“, sorgte für ein konstant hohes Stresslevel.

„Ich wollte normal wirken“

Viele Menschen mit ADHS springen von einer Sache zur nächsten“, weiß sie mittlerweile. Doch selbst klammerte sie sich an ihren Job als Musiklehrerin an einer Sekundarschule „wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz“.

Eines Abends, in ihren Vierzigern, ging Ward wie gewohnt zu ihrer Orchesterprobe – sie spielte Kontrabass –, aber vor der Tür blieb sie an diesem Abend wie angewurzelt stehen. „Ich konnte mich nicht bewegen. Aber es war irgendwie erleichternd. Etwas in mir war gebrochen.“ Am nächsten Tag ging sie zu ihrem Hausarzt, der ihr eine schwere Depression diagnostizierte.

„Ich dachte, alles, was ich tat, war zum Scheitern verurteilt. Es spielte keine Rolle, wie hart ich arbeitete. Ich konnte mir einfach nicht vertrauen. Ich wollte normal wirken. Ich konnte es nicht. Am Ende hasst man sich selbst. Und gleichzeitig weiß man, dass man gar nicht so schrecklich sein kann, wie man befürchtet, von anderen gesehen zu werden.“

Sie erholte sich davon und nahm eine Teilzeitstelle als Lehrerin an. Doch das Gefühl, unzulänglich zu sein, blieb. Nach dem Ende ihrer zweiten Ehe begann sie einen Kunstgrundkurs an der örtlichen Hochschule in Shrewsbury. Zu diesem Zeitpunkt war sie 52, und einige ihrer Kommilitonen waren ehemalige Schüler von ihr. Auf dem Weg ins Studio lief sie an einer Gruppe Jungen vorbei. „Hallo, Miss“, sagte einer. Dann zu seinen Freunden: „Das ist Miss Ward. Die ist durchgedreht.“

Damals lachte sie darüber, aber das Stigma war „schockierend“. „Je mehr Menschen ihre Erfahrungen teilen, desto besser“, fügt sie heute hinzu.

Die ADHS-Diagnose änderte Wards Leben

Ein Studium der Bildenden Kunst folgte, dann ein Masterabschluss – und Derek, ihr heutiger Partner, den sie über eine Freundin kennenlernte. Ward arbeitete Teilzeit als Vertretungslehrerin und verkaufte Gemälde, die ihre Entfremdung in der Kindheit einfingen, bevor sie schließlich mit 65 Jahren in den Ruhestand ging.

Seit ihrer Diagnose hatte Ward keine Depressionen mehr, und ihre Ängste haben sich verringert. Der Umgang mit ihrer Empathie und ihren Emotionen hat auch die Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern verändert. „Ich liebe sie über alles, aber man muss Menschen Raum geben“, sagt sie.

Beratung und Medikamente haben geholfen. Strategien wie Listen, Routinen und feste Ablageorte für Schlüssel erleichtern ihr die Organisation im Alltag. Entscheidend ist für Ward jedoch ein tägliches Mantra, trotz anfänglichem Widerstand gegen die Idee: „Ich akzeptiere mich selbst.“

„Ich hätte mich nicht so sehr hassen dürfen, nur weil ich nicht konnte, was andere konnten. Mein geringes Selbstwertgefühl hat mich dazu gebracht, sehr hart mit mir ins Gericht zu gehen“, sagt sie. „Eigentlich habe ich verdammt viel erreicht.“