Abstand zu USA und China wächst: Wohlstandsmuseum EU?

Wenn Robert Habeck am Mittwoch zu seiner fünftägigen Asienreise aufbricht, dann macht er das durchaus selbstbewusst. Über die Ankündigung der EU-Kommission, ab Anfang Juli bis zu 48,1 Prozent Importzoll auf chinesische Elektroautos zu erheben, war man im Bundeswirtschaftsministerium nicht ganz so böse wie im Kanzleramt. Habeck drängt schon seit Langem darauf, dass die EU ihre Interessen gegenüber China besser verteidigen sollte, die eigene Industrie gegenüber der chinesischen Billigkonkurrenz stärkt. Auch wenn Habecks Umfeld im Vorfeld der Reise betont, dass er nicht für die EU über die Zölle verhandeln werde: Dass der Grünen-Politiker in Peking darauf drängen wird, dass China seine Subventionspraxis ändert, ist sehr wahrscheinlich.

Doch wie viel Einfluss hat die EU im weltwirtschaftlichen Gefüge überhaupt noch? Ist sie neben den Vereinigten Staaten von Amerika und China noch das dritte große Kraftzentrum, als das sich die Regierungschefs und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerade erst wieder auf dem G-7-Gipfel in Italien präsentierten? Oder behält doch eher der Vorstandschef des Autokonzerns Stellantis Recht? Carlos Tavares warnte voriges Jahr, in zehn Jahren werde die Rolle der Europäer darin bestehen, chinesischen und amerikanischen Touristen Kaffee zu servieren.

Technik aus Amerika für sich nutzen

Was für die These vom abgehängten Europa spricht: Die amerikanische Wirtschaft wächst deutlich stärker als die der EU-Mitgliedstaaten. Die chinesische Wirtschaft erst recht, auch wenn man die von der kommunistischen Führung genannten Zahlen in Zweifel zieht, wie es die meisten Beobachter tun. Das Institut für Weltwirtschaft (IfW) aus Kiel hat für die F.A.Z. ausgerechnet, welche Folgen das hat. Das Ergebnis: Die drei großen Wirtschaftsräume driften auseinander. Die EU käme bei einer angenommenen jährlichen Wachstumsrate von 1,5 Prozent im Jahr 2050 auf ein gemeinsames Bruttoinlandsprodukt von etwas mehr als 30 Billionen Dollar, China auf 46 Billionen Dollar und die USA auf knapp 53 Billionen Dollar.

„An den Sorgen, dass Europa zu einer Art Wohlstandsmuseum wird, ist was dran“, sagt IfW-Präsident Moritz Schula­rick. „Wir werden kein Amazon oder Google mehr bekommen. Das hat damit zu tun, dass wir keinen integrierten europäischen Kapitalmarkt haben, aber auch mit der geringeren Risikoneigung.“ Die deutsche Industrie sei besser darin, schon existierende Dinge zu verfeinern, als etwas komplett Neues zu entwickeln. Der Ökonom sagt aber auch etwas, was man in Berlin gerne hören dürfte: „In dem Bereich, in dem Robotik auf Künstliche Intelligenz trifft, sehe ich Potential, da sind wir anderen Ländern voraus.“

Mit Blick auf die anstehenden politischen Gespräche betont Schularick, wie wichtig es sei, dass die EU geschlossen auftrete. „Deutschland alleine mit seinem geringen Wachstumspotential hat international nicht mehr viel Einfluss“, konstatiert er. Der IfW-Präsident sieht allerdings auch China derzeit geschwächt. „Das Ziel der Regierung in Peking, dass China bis zum hundertjährigen Bestehen der Volksrepublik 2049 die USA als größte Volkswirtschaft der Welt abgelöst hat, ist in weite Ferne gerückt.“

Außerdem sei die EU im Zollstreit in einer vergleichsweise guten Verhandlungsposition, weil der amerikanische Präsident Joe Biden im Zuge des Wahlkampfes noch viel schärfere Handelsrestriktionen gegen China eingeführt hat, von Exportverboten für Mi­krochips bis zu Zöllen auf chinesische Elektroautos von 100 Prozent. „Die EU ist jetzt gewissermaßen der Monopol-Abnehmer chinesischer Waren“, fasst Schula­rick die Lage zusammen.

Auch Jürgen Matthes, Leiter des Bereichs Internationale Wirtschaftspolitik am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, sieht keinen Grund zur Schwarzmalerei. „Der Handelskonflikt mit China muss nicht zwingend eskalieren“, sagt er. „Eine Lösung könnte sein, dass China freiwillige Selbstverpflichtungen eingeht. Zum Beispiel, dass es seine Elektroautos in Europa zu höheren Mindestpreisen verkauft.“ In der Autoproduktion gehe der Trend aber ohnehin zu lokaler Produktion, also dahin, dass Unternehmen in Europa für den europäischen Markt produzierten und in China für den chinesischen. Chinesische Autohersteller wie BYD investieren bereits kräftig in Ländern wie Spanien und Ungarn. Deutschland als Standort für neue Fabriken scheint dagegen nicht so attraktiv.

Aus Sicht von Matthes sind aber nicht so sehr die von der Politik forcierten Leuchtturmprojekte – große neue Fabriken wie die geplante von Intel in Magdeburg – entscheidend für den künftigen Wohlstand des Landes, sondern das, was in vielen kleineren Projekten auch im Mittelstand passiert. „Anfang der 2000er- Jahre hatten wir schon mal eine ähnliche Situation: Der New-Economy-Boom entwickelte sich in Amerika, Deutschland schien abgehängt bei der Produktion von Gütern der Informations- und Kommunikationstechnik“, erinnert Matthes. Aber die Unternehmen hätten die Technik aus Amerika für sich zu nutzen gewusst, etwa durch die digitale Vernetzung von Maschinen, Stichpunkt Industrie 4.0. „Produkte wurden besser, Prozesse effizienter. Das könnte jetzt bei KI ähnlich laufen.“

Die chinesische Regierung hat angedroht, gegen die angekündigten höheren Zölle der EU-Kommission bei der Welthandelsorganisation WTO zu klagen. In Berlin sieht man dem gelassen entgegen, betrachtet China als das Land, das sich nicht an die internationalen Spielregeln hält. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) drängte zum Abschluss des G-7-Gipfels in Apulien am Wochenende auf eine Reform des WTO-Regelwerks. „Aus meiner Sicht ist es ganz wichtig, (…) dass Länder, die längst sehr starke Wirtschaftsnationen geworden sind, nicht mehr von speziellen Rechten für Entwicklungsländer Gebrauch machen“, sagte er. Dies könne die Welthandelsbeziehungen „wieder auf einen besseren Stand bringen, als das heute mit sehr vielen protektionistischen Tendenzen der Fall ist“.

China nannte er zwar nicht explizit. Die Botschaft dürfte dort trotzdem angekommen sein.