„Abenteuer einer linkshändigen Friseurin“: Haarige Reflexionen

Barbara Thériault ist nicht nur Soziologieprofessorin, Buchautorin auch, sondern ließ sich während ihrer Promotion zur Friseurin ausbilden. Danach arbeitete sie in Frisiersalons und Barbier-Shops in Montreal, Erfurt und Halle.

Bereits die Schriftstellerin Katja Oskamp berichtete 2019 in Marzahn, mon amour von ihren Erlebnissen als Fußpflegerin im Ostberliner Plattenbaubezirk Marzahn. Während Oskamp erzählt, wie es ist, sich als Schriftstellerin mittleren Alters eine neue Existenz aufzubauen, geht Thériault dem Handwerk nach, um über das, was sie erlebt, und die Orte, an denen Haare geschnitten werden, als Soziologin zu reflektieren.

Die Autorin sieht diese Räume als „Weltchen“, kleine Inkarnationen der großen Welt. Und sie pendelt zwischen zwei „Weltchen“, den heute oft frauengeführten Frisiersalons und männerdominierten Barbier-Shops. In Letzteren werden Ausrasierungen und Strähnchen gemacht, von Männern an Männern, was der Klischeevorstellung von arabischer Macho-Männlichkeit so gar nicht entspricht. Die Umgangs- und Kommunikationsformen scheinen verglichen mit deutschen Männer-Peergroups weitaus femininer. Dort begegnen sich Syrer, die von „vor dem Krieg“ (in Syrien) und Deutsche, die aus „Ostzeiten“ berichten. Ihre Annäherung findet im Barbier-Shop unterhalb ideologischer Level statt.

Frisieren im Geist der Neuen Sachlichkeit

Thériaults Buch ist eine Collage aus Artikeln, die 2022 und 2023 in Zeitungen in Montreal, Erfurt und Halle erschienen sind. Kurz davor waren auch die Friseurinnen der Lockdowns wegen untätig. Das trug zu einem unterschätzten Defizit bei – dem Berührungsmangel, der den Cortisolspiegel steigen lässt und den Oxytocinhaushalt reduziert, was Stress und Einsamkeitsgefühle verursacht. Die Autorin zeigt uns das Frisieren dann auch als körperliche Interaktion, die intensiv und auf eine prä-sexuelle Weise erotisch sein kann, und doch nur ein alltägliches „Handwerk des Körpers“ ist.

Ein Schlüsselkapitel ist mit „Alltagsästhetik“ betitelt. Thériault versucht hier, eine Art Bauhaus-Ästhetik für das Friseurhandwerk zu formulieren. Beim Frisieren im Geist der Neuen Sachlichkeit gehe es nur um „Haar und Schnitt“. Das Haar ist nicht das Material, aus dem eine Kopf-Dekoration gemacht wird, wie der Gips für die Stuckateure oder der Stein für die Steinmetze. Das Haar ist ein Körperteil. Ein funktionalistischer Haarschnitt lässt sich nicht an einer besonderen, ornamentfreien Gestalt erkennen, sondern daran, dass das Haar im Frisiersalon so hergerichtet wird, dass wir es tragen können wie unsere Arme und Hände, Beine und Füße.

Der Besuch einer Konferenz am Institut für Sozialforschung, sicher ein Highlight für jede Soziologin, ist für Thériault auch eine Gelegenheit, die Frisuren und Outfits der Teilnehmerinnen zu studieren. Sie sieht sich, was die Haare angeht, unter „Gutgekämmten“.

Die Autorin zitiert hier einmal nicht Klassiker der Soziologie als Autoritätsbeweis für ihre Einschätzungen, sondern wird nachgerade sarkastisch. Persifliert das Ankommen des Poststrukturalismus nun auch in der Kritischen Theorie, indem sie die Äußerung einer Institutsautorität zitiert, die von Kritik als „performativer Kritik“ spricht, die keine Wertkriterien und keine Ziele mehr hätte, sondern einfach in der Art ihrer Darstellung bestünde. Gemeint ist, die Wirklichkeit muss nicht mehr kritisiert werden, sie kritisiert sich von selbst. Um mit einer Friseur-Metapher zu sprechen: Hier werden Löckchen auf Glatzen gedreht und Frau Thériault scheint sich amüsiert zu haben. Schließlich geht die Autorin dazu über, männlichen Kollegen „gedanklich die Haare zu schneiden“. Ein amüsanter Konferenzbericht. Und wir können uns entscheiden, ob wir ihn als Statement einer Soziologin oder Erlebnisbericht einer Friseurin lesen wollen.

Abenteuer einer linkshändigen Friseurin Barbara Thériault Edition Überland 2024, 208 S., 16 €