A$AP Rocky: Ein Alice-im-Wunderland-hafter Horrortrip

Der Rapper A$AP Rocky (35) ist ein interessanter Fall, und man muss hier wirklich von Fall reden. Denn es lässt sich, wie fast immer, wenn man es darauf anlegt, eine Menge daraus ableiten. A$AP Rocky schafft es, mit seinen Outfits (eine Mischung aus ikonischen Hip-Hop-Accessoires, Haute Couture und Kleidungsstücken, die typischerweise Frauen zugeordnet werden), seiner Musik, den dazugehörigen Videos und zuletzt der Präsentation seiner eigenen Kollektion AWGE auf der Pariser Fashion Week den Eindruck zu erwecken, das, was er, A$AP Rocky, da herstelle, habe Tiefe und sei Kunst, supercoole, avancierte Kunst, in deren Nähe man sich aufhalten will. Das gilt natürlich nur für bestimmte Leute. Leute wie mich (grüß Gott!), Leute, die dieses Feuilleton lesen, Leute, die überhaupt Feuilletons lesen, in Kunstausstellungen gehen und dann wieder zurück nach Hause, wo sie sich ins Bett legen und lange darüber nachdenken, was sie heute alles gedacht haben und wo man jetzt ein gutes Sofa herbekommt. Das Bürgertum, könnte man auch sagen. Die Musik A$AP Rockys spielt bei dem Ansehen, das er in diesem Milieu genießt, eine Rolle, aber keine zentrale; dass es sich um Rap handelt, ist nur insofern bedeutsam, als damit der Nimbus von Straße und Krassheit verbunden wird, wobei dieses Straßenthema natürlich noch viel reizvoller wird in Kombination mit A$AP Rockys Leidenschaft für Luxusmarken, die komplett unverständliche Mode anbieten. Weitere wichtige Aspekte bei A$AP Rockys attraktivem Gesamtpaket:

1. Anders als etwa seine gestresst wirkenden Kollegen Kendrick Lamar oder Drake versucht A$AP Rocky nicht so verzweifelt, bahnbrechende Musik zu veröffentlichen (sein viertes Album Don’t Be Dumb sollte schon vor Ewigkeiten rauskommen). Er scheint vor allem damit beschäftigt zu sein, Spaß zu haben (wir sollten alle eh viel mehr Spaß haben!!).

2. A$AP Rocky ist umwerfend schön.

3. Er ist der Partner des ebenfalls supercoolen Superstars Rihanna, zusammen haben sie zwei Söhne (RZA und Riot). A$AP Rocky wird von Celebrity-Magazinen mit den Worten zitiert, dass seine Kinder eine ganz normale Kindheit haben werden, genauso wie er, und das ist jedenfalls interessant, denn A$AP Rocky wuchs in Harlem als Sohn eines Drogendealers auf und war 13, als sein Bruder beim Drogendealen erschossen wurde. Er hat also, was man Streetcredibility nennt, wird aber dem Vernehmen nach von vielen Rappern trotzdem nicht besonders ernst genommen, vielleicht wegen der Frauenkleider und weil er nicht dauernd darüber rappt, wie er rappt (er rappt ja auch nicht besonders viel, kann aber durchaus ordentlich rappen: gute Stimme, gute Betonung). Als er vor fünf Jahren nach einer Schlägerei wegen schwerer Körperverletzung in Stockholm festgenommen wurde, schrieb der damalige Präsident Trump auf damals Twitter: „Habe gerade mit Kanye West über die Inhaftierung seines Freundes A$AP Rocky gesprochen. Ich werde den sehr talentierten schwedischen Ministerpräsidenten anrufen, um zu sehen, was wir tun können.“ Beides – das mit der Kindheit und das mit Trump – wird hier vor allem erwähnt, weil es in seiner Absurdität perfekt zu dem von A$AP Rocky gerade veröffentlichten Video zu dem Track Tailor Swif passt, welches nicht nur – Überraschung – mit der sogenannten Gegenwart super matcht, sondern auch ganz gut mit diesem Text, okay? Denn, Entschuldigung, aber – was ist denn eigentlich jetzt schon wieder los? In dem Tailor Swif-Video folgt man einem dadaistischen, Alice-im-Wunderland-haften Horrortrip, der nach dem Prinzip komponiert zu sein scheint, möglichst viele wahnsinnige Ideen in möglichst kurzer Abfolge aneinanderzureihen: Hase trinkt Wein und badet in Waschbecken (Kenner würden hier Beuys-Hasi vermuten), Delfin erhebt sich aus Pfütze, Frau wachsen Zigaretten aus dem Kopf, Mercedes-Limousine hat statt eines Sterns einen Wasserhahn auf der Motorhaube, aus dem Kaffee rauskommt. Alles ist grau, keiner lacht, dauernd fällt etwas vom Himmel oder geht kaputt. Das kennt man doch irgendwoher! Oder haben Sie noch nie die Tagesschau gesehen, die falschen Sachen gelikt, Alice Weidel zugehört, Annalena Baerbock zugehört, sich selbst zugehört, gedacht, dass die Eltern von Olaf Scholz zwei Bleistifte waren, weil er Bleistiften so ähnlich sieht, während die Eltern von Trump auf jeden Fall ein Eichhörnchen und eine ganz gewöhnliche Kuh gewesen sein müssen? Haben Sie noch nie eine Online-Schulung gemacht, darüber nachgedacht, welcher deutsche Schauspieler wohl in Zukunft Björn Höcke spielen wird und dass es wirklich unglaublich ist, mit wie viel Ausdauer Sie täglich wieder lächeln und den ganzen Scheiß über sich ergehen lassen? Haben Sie noch nie versucht, über eine falsche sogenannte Wirklichkeit auf eine richtige Weise zu sprechen, haben Sie noch nie gedacht, dass der Taxifahrer Sie hasst und dass in den Bahnhöfen viel zu viele Menschen liegen, denen beim Sterben zugesehen wird?

Das Video zu Tailor Swif zeigt die Realität hinter dieser Realität (eine schlimme Floskel, für die man mir dort hoffentlich direkt eine schmieren würde), die falsche Wirklichkeit wird durch komplette Sinnentleerung vorgeführt. Und mitten hindurch tanzt A$AP Rocky wie jemand, der den Wahnsinn sieht, aber akzeptiert – und unversehrt bleibt. Tailor Swif wurde im Winter 2021 von dem israelischen Regie-Duo Vania Heymann und Gal Muggia in Kiew gedreht, kurz vor Kriegsausbruch. Man sieht die Plattenbauten Kiews, als der Krieg noch in der Zukunft lag, als eine ungedachte Möglichkeit, für deren Umsetzung offenbar nur die entsprechenden Buttons angeklickt werden mussten, wie bei einer Inszenierung, aber es war dann eben keine. Man sieht Kiew, das vor dem Krieg ein beliebter Drehort für Musikvideos war, und dann googelt man die beiden Regisseure, die zusammen schon Videos für Coldplay und DJ Snake gemacht haben und die bestimmt das ein oder andere Mal Filme von Jodorowsky oder Kusturica gesehen haben, zumindest sieht Tailor Swif danach aus (und natürlich denkt man sofort, dass sie bestimmt jemanden kannten, der am 7. Oktober ermordet wurde). Man sieht also all das und denkt – und kann sich selbst dabei zusehen, wie man Verbindungen und Zusammenhänge herstellt, Sinn produziert, wo überhaupt keiner ist. Genau das machen wir von morgens bis abends, denn so sind wir eben, was will man tun.

Der Text von Tailor Swif soll übrigens von insgesamt fünf Personen (hä?) verfasst worden sein, unter ihnen auch A$AP Rocky. Bei oberflächlicher Lektüre ergibt er keinen Sinn, doch wenn man sich bissl reinkniet, erfährt man immerhin, dass das Ich, das hier spricht, keine leichte Kindheit hatte, aber schon im Alter von vier Jahren einen Sinn für schöne, teure Dinge. Später beschäftigt das Text-Ich dann offenbar einen oder mehrere Schneider, auf Englisch tailor, wie Taylor Swift. Notiz: Dabei handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Wortspiel. Ach ja, und es geht in dem Text auch um Blowjobs und darum, dass es insgesamt gut läuft für den Vortragenden, was ja ein Ding ist im Hip-Hop. Ansonsten werden einfach auf eine super klingende Weise Wörter aneinandergereiht: For the punk shit, for the funk shit / For the thug shit, for the „Go dumb“ shit.

Was wissen wir noch? Zugegeben: nicht besonders viel – und daran kann jetzt auch A$AP Rocky nichts ändern. Sicher ist aber, dass wir es bei Tailor Swif mit einem typischen Südstaatenflow zu tun haben (langsam, Reimschema und Satzrhythmus wiederholen sich), gleichzeitig klingt der Beat nach New York, was bedeutet, dass man sofort kapieren soll, dass der Track Tailor Swif nicht darauf ausgelegt ist, ein Hit zu sein, während die echte Taylor Swift ja ein einziger Hit ist. Jetzt könnte man natürlich noch kurz darüber sprechen, ob A$AP Rockys Hitverweigerung eine Coping-Strategie ist im Umgang damit, dass Rihanna, die Mutter seiner Kinder, so viel berühmter ist als er, und dann noch über feministische Außenpolitik nachdenken (quo vadis?), und zack hätte dieser Text eine STARKE THESE. Vielleicht säße A$AP Rocky dann endlich bei Lanz oder Miosga. Das wäre folgerichtig, denn Interviews mit ihm sind so dermaßen wild („Es ist irgendwie scheiße, denn an einem Tag zieht man an, was man liebt, und am nächsten Tag wird es dir von der ganzen Welt weggenommen“), dass sie es locker aufnehmen können mit sämtlichen publizistischen Besinnungsaufsätzen und Gastbeiträgen dieser Republik. Erst kürzlich las ich den Text eines „philosophischen Grenzgängers“ über deutsche Bürokratie und die Deutsche Bahn in der Tradition von „Zeitdiagnosen von Adorno bis Foucault“. Nichts anderes sagt mir Tailor Swif, dieses wirklich einfach sehr gute Video.