Eine Krankheit in ihrem letzten Stadium – Frankfurter Zeitung von 1922

Der deutsche Währungswert gleicht in diesen Tagen dem Schiff, das mit gebrochenem Steuer einem Sturm auf hoher See preisgegeben ist. Hilflos, keinem Willen gehorchend, ist die Marktvaluta jedem politischen Wechselfall, jedem Ungefähr aus dieser oder jener Richtung unterworfen. Wir sahen in kurzen Tagen einen Dollarpreis von 9200 Mark, einen solchen von 6200 und wieder einen von 8000 Mark. In der Frist einer Börsenstunde wechselte der Dollarwert von 7200 auf 7900 Mark. Jedes Anzeichen vermehrter politischer Belastung der Lage vom Westen her wirft den Dollarpreis um Hunderte und Tausende von Mark in die Höhe, nachfolgende Stagnations-Perioden meist sehr kurzfristigen Charakters ließen dem Marktwert wieder etwas Luft gewinnen, bis die sich erneuernden Sorgen um den kommenden Tag die Devisen wieder hoch wieder hoch und höher treiben.

So zeigt die Markwährung den Charakter einer Krankheit in ihrem letzten Stadium. Leicht aufflackernde Hoffnung macht immer von neuem umso schwerer Apathie Platz. Tatsächlich kann keine vorübergehende Markwertbesserung, die ja nur uns, die wir an den Hundert- und Tausendbeträgen des Dollarwertes messen, nur selten aber uns die Geringfügigkeit der umgerechneten Schwankungsbeträge auf Sechzehntel oder Zweiunddreißigstel der amerikanischen Werteinheit vergegenwärtigen, uns von der schweren und niederdrückenden Skepsis befreien, die in diesem Vorstadium vor der Brüsseler Konferenz, der, falls sie zustande kommt, Reparationsproblem und internationale Verschuldungskrise gleichzeitig zur Lösung gestellt sind, war die Gewalt-Fanfare des französischen Kriegsrats, die einer vollendeten Pression gleichkommende Drohung mit der Zerreißung Deutschlands, mit der Besetzung des wesentlichen Teils des Ruhrbezirks mit seinen Kohlenschätzen.

Wen die Götter verderben wollen

So unterstreicht Frankreich seine, jedes mögliche Maß übersteigenden Forderungen an Deutschland, so seinen Willen, in die deutsche Staatshoheit, tief auch in die deutsche Wirtschaft und deren feinmaschiges Gewebe einzugreifen. Es gibt keine Hoffnung für Deutschland, keine Hoffnung für das unter den Nachwehen des Kriegs sich windende Europa, solange ein Kriegsrat in Paris das Programm der französischen Delegation für diese Wirtschafts- und Finanzkonferenz vorschreibt. Was wir in diesen Jahren aus Paris gehört haben, war der Wille und die Entschlossenheit zur Vernichtung Deutschlands. Ist die Hoffnung erlaubt, dass noch vor den entscheidenden Tagen von Brüssel sich in Frankreich jener Umschwung ähnlich der in England schon lange eingetretenen Entwicklung vollziehen werde, der die Überleitung von einer politisch-chauvinistischen Behandlung der Reparationsfrage zu einer wirtschaftlichen Einstellung bring? Weil nach allen Erfahrungen diese Hoffnung unendlich gering geworden ist, ist der Markwert zu der trostlosen Verfassung herabgeglitten, hat sich die Weltwirtschaft und die Weltfinanz von Deutschland mehr und mehr isoliert und überlässt uns in unserer Hilflosigkeit uns selbst.

Ein altes Wort sagt: Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit. Dieses Wort mag uns die Umwelt einst zugerufen haben. Heute gilt es für Frankreich. In Wahrheit bedeutet die französische, von einer eigenartigen und aus den tatsächlichen Verhältnissen nicht begreiflichen Furcht vor Deutschland erfüllte Politik eine Selbstzerstörung des französischen Wirtschaftskörpers. Deutschland war immer zu einer angemessenen, im Rahmen der ihm nach Kriegs- und Friedensverlusten verbliebenen Leistungsfähigkeit sich haltenden Entschädigungsleistung in Form der Reparation bereit. Was wir brauchten, war: eine Atempause und Kredit. Frankreich uns seine verhängnisvolle Politik der Gewalt und Furcht zugleich haben es fertig gebracht, Deutschland zu ruinieren und damit das stärkste Aktivum, den größten Debitor der französischen Staatsfinanzen dubios zu machen. In welchem Umfange diese Politik auf Frankreich selbst zurückgewirkt hat, zeigt ein Blick auf die Entwicklung der französischen Valuta. Nach dem Kriege hat sich der französische Franc sehr lange auf wenig unter der Hälfte seiner früheren Parität zu halten vermocht. Als der Dollarpreis in Deutschland auf über 9000 Mark stieg, sank die französische Valuta in London und New York auf etwa ein Drittel ihres einstigen Wertes und dies, obwohl die französische Regierung in der Sorge vor innerpolitischen und innerwirtschaftlichen Auswirkungen schwerer Art sich lebhaft um stützenden Intervention bemüht hatte.

Drang nach neuen Kapitalien

Nichts ist erstaunlicher, als dass in diesen Schwierigkeiten, unter denen ja auch Frankreich auf das ernstlichste leidet, die französische Großfinanz und Großwirtschaft nicht die Energie und den Mut finden, der verhängnisvollen Politik in den Arm zu fallen und die Neueinstellung auf kontinentales und weltwirtschaftliches Denken zu erzwingen. Wir möchten glauben, dass, was man in New York und London schon lange erkannt hat, eines Tages auch in Paris Allgemeingut der verantwortlichen Kreise werden muss. Wird auch über diesem entscheidenden Kapitel der Nachkriegsgeschichte das Wort „Zu spät!“ stehen?

Ein beherrschender Zug in der Entwicklung der deutschen Wirtschaft ist gegenwärtig der allgemeine Drang nach neuen Kapitalien. Die Ursachen dieser Bewegung, die sich rein äußerlich den vielfältigen Kreditansprüchen an die Bankwelt und in der Emissionsgroßbewegung mit ihren Massenmilliarden neuen Aktienmaterials kund gibt, sind bekannt. Der tief herabdrückende Geldwert treibt die Teuerung immer höher und höher, er lässt die Bedürfnisse an Betriebskapitalien für jede wirtschaftliche Arbeit ins Ungemessene anschwellen, er hat einen Zustand geschaffen, in welchem trotz aller Aufblähung des Zahlungsmittelwesens mit seinem täglichen Dutzend neuer Papiermilliarden der Geldmark nicht imstande ist, die wirtschaftliche Betriebe ausreichend mit bereiten Mitteln zu versorgen.

Mit riesigen, Abwehrcharakter tragenden Zinssätzen und Provisionsbelastungen sucht die Bankwelt die Beanspruchung ihrer Kassen zurückzudrängen, mit verschwenderischen Bezugsrechten bewirbt sich die Aktienunternehmung um die Mittel des offenen Marktes, um ihre Ausstattung mit Betriebskapitalien zu ergänzen. Es ist bezeichnend für diesen allgemeinen Wettbewerb, dass bisher nur ganz vereinzelt auch Unternehmungen von erstem Rang es unternahmen, den Boden einer intensiven Kapitalpolitik zu betreten und aus ihrem Aktienwert das Erreichbare durch hohe Emissionskurse wirklich herauszuholen. Es ist eine offene Frage, ob der Geldmarkt, ob die Effektenbörsen imstande sein werden, auf die Dauer der Massenbeanspruchung zu genügen.

Es kann trotz aller Aufblähung des Zahlungsmittelwesens der Fall eintreten, dass das Massenneumaterial der Gegenwart an Aktien die aufnehmende Hand nicht mehr in vollem Umfange finden wird. Schon heute ist ein im Vergleich zu früheren Zeiten erheblich geringerer Teil des Aktienmaterials in festem Anlagebesitz, riesige, sich immer noch steigernde Beträge befinden sich, in Wahrheit flottant, in spekulativer Hand! Diese Entwicklung, die zweifellos einen ungesunden Zug in unsere Börsenverhältnisse hineinträgt, ist wesentlich dadurch gefördert worden, dass unter dem Zwang der Lebensnot ein großer Teil des Anlage-Publikums von einst zur Spekulationskundschaft der Banken und der Börse geworden ist. Je höher die Krise der Lebenshaltung ansteigt, desto mehr muss die Fähigkeit breiter Kreise der soliden Effektenkundschaft von einst, auch des Spekulantentums zur Festhaltung und Durchhaltung des Engagements sinken, besonders wenn die Interessen der eigenen Liquidität und das Bedürfnis, sich vor der Entwertung der hinausgeliehenen Gelder zu schützen, noch in steigendem Maße in der Folge der Bankwelt Zurückhaltung in der Hergabe von Krediten auferlegt.

Schon heute lehnen es sehr viele ernsthafte Bankkreise mit Recht ab, auf Effekten Kredit zu geben; wer Kredit beanspruchen muss, möge seine Effekten verkaufen und damit das Risiko der Geldentwertung selbst tragen. In dieser Situation, die zunächst sicherlich keine Entlastung erfahren dürfte, steht die Großemissions-Bewegung der Gegenwart auf unsicherem Fundament. Der Bezugsrechtanreiz mag noch so groß geboten werden, die Parole von der angeblichen Geringfügigkeit der Aktienkurse, gemessen am Geldwert von einst und jetzt, mag noch so einleuchtend sich ausnehmen, der Substanzwert der deutschen Aktienunternehmung noch so sehr betont werden – maßgebend ist: wie weit reichen die Mittel der deutschen Wirtschaft, um den begreiflichen und mit Naturgewalt sich geltend machenden Drang zur Aufrechterhaltung des Produktionsstandards der effektiven Leistung zu erfüllen?

In unserer Armut sind wir gezwungen, uns nach der Decke zu strecken. Aber wir dürfen nicht hoffen und versuchen, ohne Rücksicht auf unsere klein gewordene Kapitaldecke die finanzielle Organisation unserer Wirtschaft um jeden Preis auszudehnen. Wir sind in schwerem Dilemma, denn: Selbstbescheidung, einsichtige Arbeitsbeschränkung heißt nichts anderes als Verminderung der Arbeitsgelegenheit, Verminderung der Erzeugungsmöglichkeiten, die wir doch, um den Wirtschaftsstandard im Ganzen zu heben, um jeden Preis fördern müssten. Viel kann uns helfen, wenn wir entschlossen die Arbeitsumstellung, die Einstellung auf die wirtschaftswichtigsten Produktionsgebiete durchführen.

Wenn es uns gelingt, unter Bedingungen und in einem Maße, das die Direktive über die deutsche Arbeit den deutschen Händen gesichert überlässt, ausländisches Kapital heranzuziehen, so wird das manche Lücke auszufüllen vermögen. Wir finden hierzu Ansätze, im Ravené-Konzern und an manchen anderen Stellen. Freilich bisher nur vereinzelt in organisierter Form, während das wilde Eindringen fremden Kapitals – zum großen Teil in Form der Markwährung – unbeurteilbare Formen angenommen hat. Die deutsche Wirtschaft kann das Auslandskapital nicht entbehren, wir ziehen die organisierte Form der wilden, von spekulativen Einflüssen durchsetzten Interessennahmen vor. Dabei wird aber sorgfältig zu beachten sein, dass die Art und das Maß der dem Ausland gegebenen Beteiligung sich mit den Dauerinteressen der deutschen Wirtschaft auf freies, ungeschmälertes Verfügungsrecht im eigenen Hause in Einklang befinden.