Nord-Stream: Kiesewetter glaubt jedem RTL-Bericht, solange Russland beschuldigt wird

Beim Nord-Stream-Anschlag verdichten sich die Hinweise auf eine ukrainische Täterschaft – doch manche Politiker halten weiter an einer „russischen Spur“ fest. Warum klammern sich diese Leute an jeden Hinweis, solange er gen Moskau zeigt?


Roderich Kiesewetter möchte eine russische Täterschaft im Fall Nord Stream nicht ausschließen

Foto: Bernd Elmenthaler/Imago Images


Manche Geschichten sind zu perfekt, um wahr zu sein. Man erinnere sich an den Fall „Claas Relotius“: Da hatte der gleichnamige Journalist jahrelang großartige Storys im Spiegel geschrieben, die nur ein einziges Problem hatten: Sie waren frei erfunden. Der Grund, warum seine Geschichten sich so perfekt lasen, war, dass sie eben nicht real passiert, sondern von Relotius „geplant“ waren. Ein paar Jahre später, im KI-Zeitalter, sind wir alle noch kritischer geworden, ob das, was wir lesen und sehen, auch wirklich der Wahrheit entspricht. Zurecht. Im Fall Nord Stream geht dieser kritische Blick aber vielleicht etwas zu weit.

Über drei Jahre ist der Sprengstoffanschlag auf die Nord-Stream-Gasleitungen her. Vor Kurzem wurde erstmals einer der Hauptverdächtigen der deutschen Justiz überstellt: der Ukrainer Serhii K. Manchen scheint es aber gar nicht in den Kram zu passen, dass ausgerechnet unser ukrainisches Brudervolk hinter der Tat stecken soll. Und deshalb kaprizieren sie sich weiter auf einen Verdächtigen, von dem sie viel lieber hätten, dass der Anschlag auf sein Konto geht: Russland.

Roderich Kiesewetter: „Ermittlungen sollten russische Täterschaft nicht außer Acht lassen“

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) fragte vor einigen Tagen: „Steckt doch Russland hinter dem Nord-Stream-Anschlag?“ Auch Außenpolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) will „nicht ausschließen“, dass die bisherigen, in die Ukraine reichenden Spuren „Teil einer russischen Täuschoperation sein könnten“. Seine Theorie geht so: Russland wollte durch die Sprengung der Pipeline womöglich verhindern, dass sein Staatskonzern Gazprom milliardenteure Entschädigungen zahlen muss. Denn durch den Stopp der russischen Gaslieferungen im August 2022 kamen Gazprom-Kunden, darunter das deutsche Energieunternehmen Uniper, in echte Versorgungsschwierigkeiten.

Nach Berechnungen des Beratungsunternehmens Wood Mackenzie sahen sie sich gezwungen, Ersatzgas aus alternativen Quellen zu beziehen – und das zu einem Mehrpreis von insgesamt rund 40 Milliarden Euro. Uniper verklagte Gazprom Export vor einem Schiedsgericht in Stockholm wegen der Lieferausfälle und bekam der FAS zufolge 2024 das Recht auf eine Entschädigung in Höhe von 13 Milliarden Euro zugesprochen. Brauchte Russland also einen Fall von „höherer Gewalt“, um sich vor weiteren Entschädigungszahlungen zu schützen? Kiesewetter spekuliert darüber öffentlich. „Ermittlungen in dieser Sache sollten keine Möglichkeit außer Acht lassen“, so der Obmann im Auswärtigen Ausschuss. „Auch nicht die einer russischen Täterschaft.“

Der Grüne Michael Kellner tut es ihm gleich, wenn er sagt: „Angesichts des erfolgreichen Verfahrens gegen Gazprom Export haben die Explosionen an den Nord-Stream-Leitungen Russland vor vermutlich weiteren teuren Strafzahlungen bewahrt.“ Die beiden Spitzenpolitiker nähren so öffentlich den Glauben daran, dass doch der Kreml hinter dem gigantischen Sabotageakt steckt. Dabei hatte erst am 8. Oktober die Bundesanwaltschaft vor dem Innenausschuss im Bundestag erläutert, dass es „keine Erkenntnisse“ gebe über einen „staatlichen Auftrag“ aus Russland. Wieso glauben Kiesewetter und Kellner der Behörde nicht?

Die ukrainischen Tatverdächtigen gingen extrem doof vor

Die Antwort lautet: Die Theorie von der ukrainischen Täterschaft ist ihnen einfach zu perfekt. Wie eine Geschichte von Relotius, quasi. Die Nord-Stream-Ermittler verfolgen derzeit die Spur, dass der Anschlag auf die Gasleitungen mithilfe des Segelbootes „Andromeda“ durchgeführt worden sein könnte. Serhii K. soll an Bord und einer der Drahtzieher gewesen sein.

Besonders clever scheinen er und seine potentiellen Mittäter sich dabei nicht angestellt zu haben: Das Wall Street Journal berichtet darüber, dass die Täter sogar einen ukrainischen Wimpel auf dem Schiff angebracht haben sollen. Auch sollen sie DNA-Spuren, Fingerabdrücke und Sprengstoffreste hinterlassen haben. Und als wäre das nicht genug, benutzten sie auch noch ihre angeschalteten Handys, sodass die Sprengfahrt mit dem Boot geortet werden konnte. Ist das alles zu perfekt, um wahr zu sein. Eine Relotius-Story?

Natürlich stellt man sich da die Frage, wie unprofessionell (oder doof?) die ukrainischen Tatverdächtigen vorgegangen sind. Aber muss man sich deshalb sofort an den erstbesten Strohhalm klammern, der Russland hinter der Tat vermutet? Ein solcher Strohhalm ist Diana B. – jene Frau, deren Firma die „Andromeda“ gemietet haben soll. Der Sender RTL berichtet, dass B. nicht nur einen ukrainischen Pass besitzt, sondern auch einen russischen. Außerdem soll sie sich den Recherchen zufolge an „prorussischen Aktivitäten“ beteiligt haben. Das macht Kiesewetter stutzig: Wieso soll ausgerechnet so jemand eine der Drahtzieherinnen eines „antirussischen Anschlags“ sein?

Wieso glaubt Roderich Kiesewetter bereitwillig jedem RTL-Bericht?

Die Frage, wer wirklich hinter der Sabotage an den Nord-Stream-Leitungen steht, ist zu einer Propagandaschlacht geworden. CDUler und Grüne, die immer schon die Russen hinter allem Bösen auf der Welt vermuteten, stellen sich im Zweifel gegen die deutsche Bundesanwaltschaft und glauben bereitwillig jeden RTL-Bericht, solange er ihrem antirussischen Feldzug dient. Geholfen ist damit keinem.

Wirklich weiterbringen würde uns nur eines: eine schnelle Aufklärung dessen, was passiert ist. Einer Umfrage des konservativen, regierungsnahen ungarischen Thinktanks Századvég Institute zufolge sind knapp zwei Drittel aller Europäer unzufrieden, dass mehr als drei Jahre nach dem Anschlag auf Nord Stream noch immer kein Täter ausgemacht wurde. Stattdessen laufen die Ermittlungen in Deutschland – dem einzigen Land, das überhaupt noch an dem Fall dran ist – schleppend.

Solange das so bleibt, werden Kiesewetter und Co. jeden Beweis, der nach Kiew zeigt, als „falsche Fährte“ desavouieren, die von den Russen gelegt worden sei. Dabei sollten sie aber eines nicht vergessen: Die Realität ist keine Relotius-Story.