„Am besten, ich löse mich in Luft hinauf“: Was gegen Armut an Weihnachten getan werden kann
Die Weihnachtszeit hat, wenn man ehrlich ist, für die meisten weniger mit religiöser Einkehr als mit Shopping zu tun. So mancher Laden macht in der Vorweihnachtszeit die Gewinne, mit denen er sich den Rest des Jahres über Wasser hält. Die Kunden beklagen sich derweil über den Konsumstress. Aber spätestens an Heiligabend freuen sich die meisten doch darüber, zu Schenken und beschenkt zu werden. Doch was ist, wenn man an diesem Spiel nicht teilnehmen kann – aus Armut, und weil man niemanden zum Beschenken hat?
So geht es Sabrina Hahn aus dem Saarland. Sie ist ist 32 Jahre alt und hat als ehemaliges Straßenkind keine Familie, die sie an Weihnachten besuchen könnte. Geschenke für die Liebsten könnte sie sich aber auch nicht leisten. Aufgrund einer schweren Behinderung am Herzen darf sie maximal drei Stunden pro Tag sitzend arbeiten und bezieht zusätzlich zu einem Minijob Bürgergeld. „Es geht mir eigentlich das ganze Jahr über nicht gut. Shoppen, Stadtfeste, mit Freunden essen gehen, das sind alles fremde Dinge für mich“, sagt sie. „Aber um die Weihnachtszeit ist es nochmal schlimmer.“
Der Paritätische Gesamtverband hat zuletzt eine Studie zu Armut in Deutschland veröffentlicht: Demnach leben mehr als 17,5 Millionen Menschen in Deutschland, die nach Abzug von Fixkosten wie Miete, Nebenkosten und Kreditzinsen ein Einkommen im Armutsbereich haben. Das wären 5,4 Millionen Menschen mehr als in bisherigen Schätzungen angenommen.
Zwischen Isolation und Not: Wie Menschen arm werden
Ein Leben in Armut ist immer hart, aber zur Weihnachtszeit noch einmal ganz besonders. „Die Menschen gehen in eine Zeit, in der sie noch stärker mit ihrer Armut konfrontiert sind“, weiß Helena Steinhaus, Gründerin des gemeinnützigen Vereins Sanktionsfrei, der sich für die Belange von Bürgergeldempfängerinnen und für eine bedingungslose Grundsicherung für alle einsetzt.
Der Schwellenwert, ab dem ein Ein-Personen-Haushalt als arm gilt, liegt bei 60 Prozent des Medianeinkommens: 1.016 Euro. Von dieser Summe kann Mara Schmidt nur träumen: Sie bezieht Sozialhilfe in Höhe von knapp über 650 Euro. Sie leidet an der angeborenen Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose und lebt alleinstehend im besonders weihnachtsseligen Erzgebirge. Doch für Dinge wie Adventskalender, Kranz und Kerzen hat sie kein Geld, erst recht seit der Pandemie. Nach Abzug aller Fixkosten bleiben ihr rund 300 Euro zum Leben. Davon kauft sie nicht nur Lebensmittel, sondern auch Medikamente, die die Krankenkasse nicht übernimmt. „Vor Corona habe ich mir immer mal wieder ein Buch gekauft, eine kleine Zimmerpflanze oder eine Deko, was Kleines, was Schönes. Das sind Dinge, die jetzt nicht mehr drin sind.“
Mara Schmidts Ehemann ist im vergangenen Jahr kurz vor Weihnachten gestorben. Seitdem macht ihr nicht nur die Armut, sondern auch die Einsamkeit zu schaffen. Zumindest Heiligabend möchte sie nicht allein, sondern bei der Familie ihres Bruders verbringen. „Dann wäre wenigstens ein Weihnachtsessen drin.“ Aber auch der Besuch bei der Familie macht ihr Sorgen. „Das mit den Geschenken wird schwierig. Ich bin gut im Basteln, aber es ist schon blöd, wenn ich mit ein paar gebastelten Sternen aus Papier ankomme und die anderen mir dann mit Geld was gekauft haben. Und genauso unangenehm ist es, wenn man sagen muss: Schenk mir bitte keinen Kitsch, sondern lieber einen Gutschein für Netto, das bringt mir mehr. Ich will ja auch nicht undankbar wirken.
Festessen, Geschenke und Weihnachtsbaum – im Sozialstaat nicht drin
Mara weiß noch nicht, ob sie es an Heiligabend zu ihrem Bruder schafft, für Sabrina Hahn ist derweil schon klar: dieses Weihnachten verbringt sie allein. Wie ihr geht es wohl vielen, vor allem armen Menschen in Deutschland, denn der Zusammenhang zwischen Armut und Einsamkeit ist in Studien gut belegt. Daten des Sozioökonomischen Panels zeigen: „Einsamkeitsbelastete“ hatten 2021 ein um knapp 16 Prozent geringeres Äquivalenzeinkommen als die Gesamtbevölkerung. „Armut führt dazu, dass man kaum die Chance hat, mit Freunden auszugehen, ins Restaurant oder ins Kino“, erklärt Helena Steinhaus. „Deswegen ist Armut immer wieder der Anfang von Einsamkeit.“
Die Last von Armut und Einsamkeit ist selten so spürbar wie zu Weihnachten. Während die meisten Menschen in Deutschland Heiligabend mit Geschenken und Zeit mit der Familie verbringen, ist das vielen Menschen, die von Sozialhilfe abhängig sind, nicht vergönnt. „Ein festliches Essen, Geschenke für die Familie, ein Weihnachtsbaum – das ist in unserem Sozialstaat nicht vorgesehen, es gibt im Regelsatz keinen Posten dafür. Es steht diesen Menschen nicht zu“, so Helena Steinhaus.
Und so fühlt Sabrina Hahn sich zur Weihnachtszeit sozial ganz besonders ausgegrenzt. „Alle gehen Essen, auf den Weihnachtsmarkt, Shoppen, sie reden, was sie für die Bescherung besorgen – da kann ich nicht mitmachen, dafür fehlt mir einfach das Geld.“ Dabei geht Sabrina Hahn selbst gar nicht gerne Shoppen. „Aber ein bisschen auf den Weihnachtsmarkt gehen und Glühwein trinken, das wäre schon schön.“
Ein eingefrorenes Schnitzel, extra für Weihnachten
Den 24. Dezember wird sie weniger feiern, als „versuchen, ihn rumzukriegen“ – mit Weihnachtsfilmen und etwas Besonderem zu Essen. „Manchmal kaufe ich mir schon im Sommer ein günstiges Schnitzel und friere es ein – extra für Heiligabend.“ Dieses Weihnachten wird sie abends einen Spaziergang machen. „Ich gucke mir gern an, wie die Leute ihre Häuser dekoriert haben“. Eigenen Weihnachtsschmuck leistet Sabrina Hahn sich nicht.
Sowohl Mara Schmidt als auch Sabrina Hahn leiden auch an der Stigmatisierung, die mit ihrer Armut einhergeht. „Ich habe das Gefühl, dass Menschen, die wie ich krank sind und nicht arbeiten können, in unserer Gesellschaft wertlos sind“, sagt Sabrina Hahn. „Manchmal habe ich das Gefühl, die Politiker würden sich wünschen, dass wir sterben – weil dann sind wir weg. Am besten, ich löse mich in Luft auf. So fühlt sich das an.“ Mara Schmidt sagt, sie verstehe, „dass es vielen Leuten nicht gefällt, für einen Apfel und ein Ei arbeiten zu gehen. Aber diese Leute hätten keinen Cent mehr Lohn, wenn Sozialhilfeempfänger weniger Geld bekommen. So zu denken, ist unglaublich unsozial.“
150 Euro Weihnachtsbonus für 454 Menschen
Perspektivisch sieht es nicht danach aus, als würden Sozialhilfe oder Bürgergeld so angepasst, dass Menschen wie Mara Schmidt und Sabrina Hahn aus der Armut geholfen würde. Friedrich Merz, nach aktuellen Umfragen der wahrscheinlich nächste Kanzler des Landes, äußerte kürzlich in der ARD, er wolle „dieses System Bürgergeld vom Kopf auf die Füße stellen. Da werden sich zweistellige Milliardenbeträge einsparen lassen“. Bei Mara Schmidt führt die regelmäßig neu angestoßene Kürzungsdebatte zu Zukunftsangst. „Es ist jetzt schon so eng und so knapp, dass ich nicht weiß, was ich machen würde, wenn sie das Geld jetzt runtersetzen.“
Und so sind von Armut Betroffene in Deutschland von der Solidarität ihrer Mitbürger*innen abhängig. Die gibt es: Die Initiative Sanktionsfrei unterstützt zufällig ausgeloste Sozialhilfeempfänger mit einem Weihnachtsbonus von 150 Euro. Die Aktion beruht auf Spenden, dieses Jahr wurden 68.000 Euro gesammelt, mit denen 454 Menschen ein Weihnachtsbonus ausgezahlt werden konnte – eine kleine Zahl angesichts von rund 27.000 Bewerberinnen. „Aber das Schöne ist, dass auch die Menschen, die nicht gewinnen, sich gesehen fühlen“, so Helena Steinhaus. „Allein durch die wahrgenommene Solidarität aus der Gesellschaft.“
*Die Namen von Sabrina Hahn und Mara Schmidt wurden auf eigenen Wunsch hin anonymisiert, liegen der Redaktion aber vor.