Frauke Rostalski: „Wir müssen offener sprechen“

DIE ZEIT: Frau Rostalski, Sie schreiben über die zunehmend vulnerablen, also verletzlichen Gesellschaften – woran merken Sie diese Verletzlichkeit?

Frauke Rostalski: Als Juristin habe ich natürlich zunächst darauf geschaut, wie sich unsere Gesetze verändert haben in diesen letzten Jahren. Dort wird zunehmend Rücksicht genommen auf Verletzlichkeiten, denken wir an den Masern-Impfpflicht-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 2022: Da ist ein Virus, das wir lange kennen und das ein überschaubares Risiko bietet, die Gesellschaft ist aber offenbar nicht mehr bereit, dieses Risiko hinzunehmen wie bislang, also Impfpflicht – dem ist das Gericht gefolgt. Dann gibt es viele Bereiche des Strafrechts, die Ehrschutzdelikte, also Beleidigung und Verleumdung zum Beispiel, die ausgedehnt worden sind zugunsten marginalisierter Gruppen, aber eben auch von Personen, die im öffentlichen Leben stehen; dann die Sexualstraftaten, wo auch Ausweitungen stattfinden, Stichwort Catcalling, das Hinterherpfeifen, oder Gehsteigbelästigung, alles jetzt gesetzlich geregelt, wie auch im neuen Selbstbestimmungsgesetz das Deadnaming …

ZEIT: … wenn jemand sein Geschlecht geändert hat und jetzt mit dem vorherigen Namen angesprochen wird, dann wäre das jetzt eine Ordnungswidrigkeit. Was recht drastisch klingt.

Rostalski: Auch für mich und viele Juristenkollegen kam das überraschend, denn meines Erachtens ist das Phänomen nicht weitverbreitet und nicht schwerwiegend genug, um daraus per Gesetz eine allgemeine Ordnungswidrigkeit zu machen. Es lief auch unter dem Radar der Öffentlichkeit.

ZEIT: Weniger juristisch gefragt: Wenn neue Schutzbedürftigkeit auftaucht, muss der Staat doch handeln, weil er den Bürger schützen will?

Rostalski: Schutz ist die Aufgabe des Staates, aber wir haben uns glücklicherweise für den freiheitlichen Rechtsstaat entschieden. Auf der einen Seite soll er Freiheit gewährleisten, auf der anderen Sicherheit, wir müssen ständig aushandeln, was wir dabei in welche Richtung verschieben wollen. Ich setze bei so einer Verschiebung an: Wegen der starken Vulnerabilität bewegen wir uns immer weiter in Richtung Sicherheit. Vieles passiert zwar noch unbewusst, aber es nimmt uns immer mehr individuelle Freiheit. Darüber aber muss eine Gesellschaft diskutieren.

ZEIT: Wie erklären Sie sich diesen Trend zur Vulnerabilität, der ja alle westlichen Länder betrifft?

Rostalski: Zum einen erstarken Gruppen, die lange Zeit zu Unrecht diskriminiert wurden und jetzt auch Machtansprüche anmelden; um marginalisierte Gruppen zu schützen, werden entsprechende Gesetze gemacht. Aber das ist nur der kleinste Teil der Erklärung. Viel zentraler scheint mir, dass wir uns in der schon in den 1980er-Jahren diagnostizierten „Risikogesellschaft“ befinden: Es gibt erhebliche Risiken, für den Einzelnen schwer zu kontrollieren, mit erheblichem Schadenspotenzial, wenn sie eintreten. Damals war das die Atomenergie, heute künstliche Intelligenz, Pandemien, Klimawandel. Leider haben wir aber nie die Risikokompetenz in der Bevölkerung ausgebildet. Somit ist die Fähigkeit, selbstverantwortlich mit Risiken umzugehen, immer weiter zurückgegangen. Und es gibt Gewöhnungseffekte, wie man während der Pandemie gesehen hat: Da gaben viele Menschen viel von ihrer Freiheit an den Staat ab.

ZEIT: Sie sprechen davon, dass Schutzbedürftigkeit tendenziell immer ausweitbar ist. Was ist daran problematisch?

Rostalski: Verletzlichkeit und Risiko sind subjektiv, da gibt es keine definierten Grenzen. Insofern gibt es in einer Gesellschaft keinen Moment, an dem man nicht noch etwas regeln könnte. Das beste Beispiel ist der Bereich der sexuellen Selbstbestimmung, wo man anfing, schwerwiegendes Verhalten zu ahnden, was aber mit den Jahren immer weiter ausfaserte. Heute wird Deadnaming und demnächst wohl auch Catcalling geahndet. Momentan können wir uns wohl nicht vorstellen, was man noch im Bereich von Selbstbestimmung und Ehrschutz erfassen wird können. Wenn immer mehr in der Gesellschaft bereit sind, diesen Weg zu gehen, sehe ich da kein Stoppsignal.

ZEIT: Aber Recht ist nicht statisch, sondern reagiert auf gesellschaftliche Veränderungen. Und wenn Hasskommunikation zunimmt, wenn eine ganz neue Pandemie auftaucht, warum dann nicht darauf gesetzlich reagieren?

Rostalski: Das ist natürlich manchmal nötig, wie im Falle der Pandemie. Aber es sind gerade oft keine neuen Risiken, denken Sie an die Masern, die jetzt der Eigenverantwortung entzogen wurden. Im Internet geht es oft übel zu, keine Frage. Aber ob man deshalb weitere Strafgesetze oder Regulierung schaffen muss? Hass und Hetze, so schlimm das für den einen oder anderen Nichtjuristen klingen mag, sind weitgehend von der Meinungsfreiheit gedeckt. Die Grenzen sind die Beleidigungstatbestände. Das muss man nicht staatlich neu regulieren, sondern schlicht das geltende Recht umsetzen.

ZEIT: Ist das Modell des eingreifenden Staates, der immer mehr Bereiche des Lebens regelt, nicht seit 150 Jahren ziemlich erfolgreich für die Bürger? Woher Ihr Misstrauen gegenüber dem Problemlöser Staat?

Rostalski: Freiheit heißt für mich erst einmal klassisch: Abwehr des Staates. Der Einzelne muss geschützt werden vor diesem stärksten aller Gegenspieler. Ich will zeigen, dass das Individuum mit seinen Freiheitsrechten im Zentrum steht. Wenn der Staat davon etwas wegnehmen will, muss er das bitte schön besonders begründen.

ZEIT: Ein origineller Begriff von Ihnen ist „Diskursvulnerabilität“, der sich auf unsere Öffentlichkeit bezieht. Was bedeutet er genau?

Rostalski: Ich meine eine spezielle Spielart: die Verletzlichkeit in der Kommunikation. Da denke ich daran, wie wir unsere öffentlichen Debatten in den letzten Jahren führen, vornehmlich seit der Coronapandemie. Da gab es starke Lagerbildung und einen harschen Umgang miteinander. Verletzlichkeit passt nämlich sehr gut zu einer Verrohung des Diskurses: weil die Menschen dadurch, dass sie verletzlich sind, besonders starke Abwehrreaktionen gegenüber bestimmten Themen, gegenüber bestimmten Sprechern haben und diese Abwehr aggressiv durchsetzen wollen, weil sie besagte Angst davor haben, verletzt zu werden. Was dann bis zum Diskursausschluss führen kann.

ZEIT: Heftige, ja feindschaftliche Debatten gab es in der Demokratie schon immer.

Rostalski: Heute neigen Menschen aber dazu, ihren eigenen moralischen Standpunkt so stark aufzuwerten, dass dieser mehr oder weniger Teil ihrer eigenen Persönlichkeit wird. Deswegen sind sie so verletzlich. Wenn nämlich ein Sachargument an sie herangetragen wird, das sich nicht verträgt mit ihrer eigenen Meinung, ist es nicht mehr bloß Argument, sondern ein Angriff auf die eigene Person, weil man sich ja zuvor entsprechend aufgewertet hat. Ein Zitat von Olaf Scholz aus dessen „Zeitenwende“-Rede im Bundestag 2022 habe ich im Ohr, auch wenn er es so nicht gemeint hat: Wir stünden auf „der richtigen Seite der Geschichte“ – wie soll ich da noch mit jemandem diskutieren, wenn ich doch auf der richtigen Seite der Geschichte stehe? Sachargumente sind gegen eine solche Gewissheit kaum denkbar – und werden schlimmstenfalls als etwas Feindliches betrachtet. Genau diesen Mechanismus erleben wir in vielen Debatten, Corona, Ukraine oder jetzt beim Krieg im Nahen Osten. Gesellschaftlich kann man kaum mehr sachlich miteinander diskutieren, sondern Leute werden sofort in Schubladen gesteckt, wo man nicht mehr mit ihnen sprechen kann und muss – und umgekehrt. Das ist übrigens kein Wokeness-Problem und auch nicht etwa Schuld hysterischer Minderheiten: Denn wir alle sind in der Gesellschaft diskursvulnerabel geworden.

ZEIT: Wie gehen Sie selber mit diesen Verletzlichkeiten in Debatten um?

Rostalski: Wenn mir jemand in Deutschland erklärt, er habe in den vergangenen Jahren noch nie überlegt, welche Themen er jetzt öffentlich diskutiert und zu welchen er lieber schweigt, um lieber seine Ruhe zu haben: Dem würde ich nicht glauben. Einschränkungen im beruflichen Kontext erlebe ich aber nicht, unter Juristen gibt es grundsätzlich eine sehr offene Kommunikation. Trotzdem nehme ich die Verletzlichkeiten wahr. Mein Rezept klingt simpel: daran zu arbeiten, dass wir wieder offener miteinander sprechen. Gerade wenn ich den Impuls spüre, mich lieber mal zurückzuhalten, es genau dann gerade nicht zu tun. Denn ohne diesen offenen Diskurs verbauen wir uns auch den Weg zueinander: Ich habe dann zwar nicht gesprochen, aber mir und dem anderen ist damit auch nicht geholfen, weil wir wieder in Distanz zueinander bleiben. Man kann durch das argumentative Gespräch zueinanderfinden, davon bin ich fest überzeugt.

ZEIT: Warum finden Sie Diskursvulnerabilität aber gleich gefährlich für die Demokratie?

Rostalski: Ich halte sie wirklich für ein Übel, weil das Kernelement der freiheitlichen Demokratie der offene Diskurs ist. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Diskursvulnerabilität zurückfahren. Uns auch wieder mehr zumuten und daher keine Sprecher, keine Argumente ausschließen, sondern die integrative Funktion von Diskursen nutzen. Feuer erlischt nicht einfach so hinter Brandmauern, es schlägt dort oft höher, das haben wir hinreichend erlebt. Man muss mehr miteinander diskutieren, selbst da, wo es wehtut.

Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit; C. H. Beck, München 2024; 189 S., 16,– €, als E-Book 11,99 €