Was Europa den USA in jener Tech-Branche voraushat

Erst das Internet, dann die Cloud, jetzt die Künstliche Intelligenz (KI): Die Vereinigten Staaten waren Europa in den vergangenen Jahrzehnten in vielen digitalen Technologien mehr als eine Nasenlänge voraus. Doch womöglich ändert sich das in Zukunft – die neue Ausgabe des viel beachteten „State of European Tech“-Berichts des Wagniskapitalgebers Atomico gibt jedenfalls Anlass zur Hoffnung. Demnach gibt es in Europa aktuell rund 35.000 Tech-Start-ups in der Frühphase, mehr als in jeder anderen Region der Welt. Diese Pipeline an frisch gegründeten Start-ups hat sich im Vergleich zum Jahr 2015 mehr als vervierfacht. Zudem hätten in Europa in den vergangenen zehn Jahren stets mehr Unternehmer ein neues Start-up gegründet als in den Vereinigten Staaten. Für das laufende Jahr zählt Atomico gut 16.000 einzelne Gründer.

Und auch in Sachen Kapital für Start-ups hat sich einiges getan – zumindest in der Frühphase: 2015 war London noch die einzige europäische Top-10-Stadt der globalen Start-up-Hubs nach eingeworbenen Finanzierungsmitteln für Frühphasen-Start-ups. Dieses Jahr ist London im weltweiten Vergleich auf Rang zwei vorgerückt – und Berlin und Paris sind in die Top 10 eingezogen. Europas Investitionen in Start-ups wachsen laut Atomico schneller als die in allen anderen Regionen. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Start-up-Finanzierungen lag demnach in Europa in den vergangenen zehn Jahren bei 13 Prozent. Zum Vergleich: In den USA betrug das Wachstum im Durchschnitt acht Prozent, in China bei zwei Prozent.

Das Vorbild Skype

Das Silicon Valley habe einen Vorsprung von 40 Jahren gehabt, Europa habe in Sachen Tech-Unternehmen im Prinzip Anfang der 2000er neu angefangen, sagt Tom Wehmeier, Partner von Atomico und Mitautor des Berichts, im Gespräch mit der F.A.Z. Inzwischen liege Europa bezüglich der Investitionsvolumen noch gut zehn Jahre hinter den Vereinigten Staaten, bezüglich der Arbeitsplätze in der Tech-Branche noch etwa fünf. Wehmeier erklärt diese Aufholjagd mit der Metapher eines Schwungrades: Ein erfolgreiches Start-up würde neue Gründer inspirieren, Vorbilder und Expertise schaffen. Mit den Geldern aus dem Verkauf oder dem Börsengang der Unternehmen würden viele Mitarbeiter dann wieder neue Unternehmen gründen. Aus dem Skype-Verkauf an Microsoft seien so beispielsweise bis heute in mehreren Generationen 1000 Unternehmen entstanden, sagt Wehmeier, dessen Chef Niklas Zennström Skype mitentwickelt hat. Mehr erfolgreiche Start-ups brächten mehr erfolgreiche Start-ups hervor – ein sich selbst beschleunigender Prozess.

Nichtsdestotrotz: Bei einer Fortschreibung des aktuellen Trends würde Europa das heutige Investitionsniveau der USA erst im Jahr 2034 erreichen. Und da enden dann auch allgemein die hoffnungsvollen Nachrichten. Das europäische Problem liegt vor allem in der sogenannten Wachstumsphase, also ausgerechnet dann, wenn Start-ups Investoren eigentlich schon erste Erfolge im Markt präsentieren konnten. Dabei machen europäische Start-ups genauso gute Fortschritte wie die amerikanischen Konkurrenten. 44,3 Prozent der europäischen Start-ups schaffen nach ihrer ersten Finanzierung noch eine zweite Finanzierungsrunde. In Amerika liegt der Anteil sogar nur bei 41,5 Prozent. Im weiteren Finanzierungsverlauf liegen die beiden Kontinente eng beieinander.

Wachstumskapitallücke von 375 Milliarden Dollar

Aber amerikanische Start-ups erhalten pro Finanzierungsrunde deutlich mehr Geld. Die Wahrscheinlichkeit, Finanzierungsrunden über 15 Millionen Dollar zu erhalten, ist für amerikanische Start-ups doppelt so hoch. Seit 2015 haben Start-ups in Europa 300 Milliarden Dollar an Wachstumskapital eingesammelt. Doch hätten sie den gleichen Zugang zu Kapital wie in den USA gehabt, hätte es doppelt so viel sein können, gibt Atomico zu bedenken. Zusammen mit 75 Milliarden Euro, die amerikanische Investoren in europäische Start-ups steckten, kommen die Autoren des Berichts auf eine europäische Wachstumskapitallücke von 375 Milliarden Dollar. Jedes zweite europäische Tech-Unternehmen in der Wachstumsphase habe sich für Finanzierungsrunden an US-Investoren gewendet.

Dies kreiere einen Sog weg von Europa, warnt Atomico: Talent, Wissen und wirtschaftliche Kraft könnten aus Europa abwandern. Das Problem müsse auf institutioneller Ebene gelöst werden. Europäische Pensionsfonds investierten aktuell nur 0,01 Prozent ihres Vermögens von neun Billionen Dollar in Wagniskapital. In den USA stammen gut 70 Prozent des Wagniskapitals von Pensionsfonds und Stiftungen. Die Autoren des Berichts vom Wagniskapitalgeber würden von mehr Geld durch institutionelle Investoren freilich auch profitieren. „Wir sehen schon eine leichte Bewegung in diese Richtung bei Versicherern und Pensionsfonds“, sagt Atomico-Partner Wehmeier. Der französische Tibi-Plan oder die deutsche „WIN-Initiative“ würden diese Bemühungen antreiben. Im Zuge der „WIN-Initiative“ haben sich einige große Banken, Versicherer und Industriekonzerne verpflichtet, bis 2030 zwölf Milliarden Euro in Zukunftsbranchen zu investieren.

Derweil pendeln sich die Investitionen in europäische Start-ups nach den Ausreißerjahren 2021 und 2022 wieder auf einem normalen Niveau ein, sind aber leicht rückläufig: Nach 47 Milliarden Dollar im Vorjahr sind es in diesem Jahr voraussichtlich 45 Milliarden Dollar. Deutschland belegt dabei nach Großbritannien mit 13,1 Milliarden Dollar und Frankreich mit 7,5 Milliarden Dollar im europäischen Vergleich mit 6,7 Milliarden Dollar wie im Vorjahr den dritten Rang. 2023 erhielten Start-ups hierzulande noch 7,1 Milliarden Dollar. Für das kommende Jahr rechnet Investor Wehmeier mit einem weiteren „resilienten“ Jahr, möglicherweise mit einem kleinen Aufschwung. Leicht optimistisch ist er für mehr Börsengänge. Solche „Exits“ von Start-ups seien für die Branche essenziell, weil sie Geld ins Ökosystem spülten.

Von den 6,7 Milliarden Dollar Gesamtinvestitionen in Deutschland flossen 1,4 Milliarden Dollar in KI-Start-ups. Damit liegt Deutschland im weltweiten Vergleich der Investitionen in KI-Start-ups auf dem fünften Rang, vor Frankreich, aber hinter Großbritannien. Die Vereinigten Staaten führen die Rangliste mit 47,2 Milliarden Dollar deutlich vor China mit 10,9 Milliarden Dollar an.